Santa Rita (Tommy Wieringa)

*Rezensionsexemplar*

Montag, 19.08.2019

Das Land flach wie ein Teppich. Grasende Pferde mit gesenkten Köpfen. In die Landschaft gesprenkelt wie Punkte zwischen alten Gehöften. Ein kleines Land mit großen Kontrasten. Mit modernen, pulsierenden Städten wie Rotterdam. Alten Städten, in denen jeder Stein Geschichte atmet, wie Amsterdam. Dann wieder Küste, Strände und Land satt. Gartengroßmeister sind sie auch, in Appeltern beispielsweise kann man sich in einem riesigen Landschaftsgarten verlaufen und davon träumen, welche von den zahlreichen der dort ausgestellten Ideen man sich in den eigenen Garten holt. Unsere Nachbarn haben einiges zu bieten, ich bin immer wieder gerne dort zu Gast. Ihr Land ist von Wasser durchzogen und stille Wasser gründen ja bekanntlich tief, was mich darauf bringt, das sich die niederländische Literaturszene bislang noch komplett vor mir verborgen hat. Also, wenn es da jetzt nicht mal Zeit wird, druckfrisch erscheint heute:

Santa Rita von Tommy Wieringa

Als der Russe vom Himmel in ihr Leben gefallen war, war dies gleichzeitig der Anfang von ihrem Ende. Abgestürzt auf einer waghalsigen Flucht mit seinem Doppeldecker, direkt hinter ihrem Hof, hinter den wuchernden Holunderbüschen war er aufgeschlagen. Gerettet hatte ihn dann ausgerechnet sein Vater Alois. Wenn der an diesem Tag auch nur geahnt hätte, was er später wissen würde, hätte er sich dann raus gehalten? Wer kann schon sagen, wie er sich verhalten wird, wenn einem sowas wie die Stunde schlägt? 

Als Pauls Mutter sich mit dem Russen, er hieß übrigens Anton, Anton Rubin, aus dem Staub gemacht hatte, war es 1975 und Paul acht Jahre alt. An seinem neunten Geburtstag und an jedem weiteren sollte er ab jetzt vergeblich auf sie warten. Alice war ihr Name und mit ihr, die nicht mehr mit dem Vater verheiratet war, dieser aber irgendwie noch mit ihr, verschwand für Paul sein Wunderland, und es zog fortan immer ein kalter Lufthauch durchs Haus. Sein Vater, Geschichtslehrer und Pragmatiker,  musste sich jetzt das Kochen beibringen und ihm, Paul, fiel dabei die Rolle des Kartoffelschälers zu. Täglich standen sie auf dem Speiseplan, Grund genug sie als Erwachsener davon zu verbannen. Statt Gute Nacht Geschichten las der Vater aus dem Neuen Testament, mit Auge um Auge hatte er es nicht so, selbst jetzt nicht, nach dem Russen …

” Holunderblütensirup – Frühling 75. Von den Flaschenböden stieg der Niederschlag in blassen Wirbeln auf, im Glas gefangene, transparente Sternennebel.” (Textzitat)

Ein Erwachsenenleben ohne Frau, dafür mit Vater und mit der Verpflichtung im Herzen sich um ihn zu kümmern, denn schließlich hatte dieser ihn ja auch alleine groß gezogen, die meiste Zeit jedenfalls. Das Bein des Vater war nicht mehr gut, es schien am lebenden Mann zu verwesen, noch hatte ihr Hausarzt nichts von Amputation gesagt, aber beide wussten worauf es hinauslief und sie schwiegen, wenn Paul die offenen Stellen mit angehaltenem Atem, des Geruchs wegen versorgte …

Die ersten Chinesen kamen ins Dorf, weil Baptist eine Frau brauchte. Sie kam und brachte Kinder mit und Verwandte. Dann lernte immer irgendwer irgendwen chinesisches kennen, und plötzlich gehörte chinesisches Essen, jenseits aller Kartoffeln, den Bintje wie sie hier sagten, in der Dorfkneipe zum Alltag. 

“Zu kräftigen Knollen herangewachsen, wussten sie nichts von dem Staub und den Sommerstürmen über ihnen. Davon, dass das Kraut gespritzt wurde und der ganze Acker wie durch einen Fluch verdorrte. Nichts wusste die Kartoffel, sie war von Anfang bis Ende unwissend”. (Textzitat)

Sie gehörte zu den Omas im Club Pascha mit ihren knapp vierzig Jahren. Rita, Sohn und Tochter hatte sie auf den Philippinen, war hier gestrandet zwischen den Thailänderinnen, den Vietnamesinnen und den Chinesinnen, wurde von ihrem Chef dressiert ebenso wie sie und Paul hasste ihn dafür. Hatte ihm auch schon mehr als einmal die Meinung gegeigt. Pauls Verlangen ließ sich aber nicht durch sein schlechtes Gewissen mildern, für Liebe zahlen zu müssen war er inzwischen gewohnt und so kam er immer wieder hierher, fragte nach Thong oder eben nach Rita. Santa Rita, etwas heiliges umgab sie  und deshalb hatte er ihr auch dieses Medaillon der Heiligen Rita geschenkt, das sie fortan nicht mehr ablegte. Die Heilige Rita galt als Retterin der aussichtslosen Fälle, man konnte ja nie wissen …

Pauls Freund aus Kindertagen führte im Ort den Krämerladen. Seltsam unverdrossen stemmte er sich gegen die Zeit und die Vorherrschaft der Discounter. Vom Vater 1911 eröffnet, wehrte er sich heute, hundert Jahre später, gegen die Konkurenz mit Trockenfrüchten, Keksen und Dosenbohnen. Freunde kann man sich nicht aussuchen, sagte sich Paul immer im Stillen, vielleicht waren sie ja auch nur Schicksalsgefährten. Vierzig Jahre kannten sie sich jetzt, fuhren gemeinsam in Urlaub. Hedwiges war inzwischen ein rechter Trauerkloß geworden fand Paul, er hörte ihm schon gar nicht mehr richtig zu, ständig fing er von den Toten an, vom Sterben, sie waren doch eben erst auf der Zielgeraden, zur Fünfzig …

Dann ein Überfall, ein eingeschlagener Schädel, Verdächtigungen mit und ohne Grund, hinterlassen nicht nur körperliche Spuren … 

Tommy Wieringa, niederländischer Autor erhielt für “de heilige Rita” 2018 den BookSpot Literatuurprijs. Er macht es mir leicht ihn und seine Geschichte zu mögen, als ob er wüsste das ich kautzige Figuren besonders gerne hab. Seine haben Eigenheiten, die er charmant einbaut. So lässt er den Vater seiner Hauptfigur jeden seiner Bissen siebenunddreißig Mal kauen, jede Mahlzeit dauert so gefühlt ewig. Das so entstehende Schweigen steht zwischen ihnen wie eine Nebelwand. Er formuliert humorvoll augenzwinkernd, aber er kann auch auf den Punkt, so dass man hart schlucken muss. Zeichnet so eine eigenbrötlerische Szenerie im äußersten Zipfel der Niederlande, wo es viel Land und wenig Mensch gibt. Diese Wenigen aber lässt er prägendes erleben.

Dort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen spielt diese Geschichte. Wölfe streifen hier wieder durch die Wälder, Geldautomaten werden abgebaut, weil sie zuwenig Umsatz abwerfen. Packte einen ein Nachbar ins Auto, war man schneller im Krankenhaus als mit dem Rettungswagen. Geburtstage verstreichen hier unbemerkt, und sogar Selbstmordbriefe haben ein Ablaufdatum …

Wieringa erzählt von einer Einsamkeit, die tief im Herzen wohnt, auch wenn mal nicht allein ist. Von Freundschaft die da ist, von Lebensumständen die nicht ideal sind, von verpassten Chancen, verstreichenden Gelegenheiten, von Eheleuten, die nie zusammengepasst haben, von Zusammenhalt und Verantwortungsbewußtsein. Trocken und lakonisch ist sein Ton. 

“Santa Rita” ist eine der ersten Sommer-Neuerscheinungen dieses Jahres die ich gelesen habe, und dieser Ausflug über den imaginären Grenzzaun zu unseren Nachbarn hat mir gefallen. Sehr sogar, in seiner Unaufgeregtheit, mit seiner Ruhe, die zwischen den Zeilen steht, wie eine Windstille beim Segeln.

Eine Geschichte, die so wolkenverhangen, so schwanger von Gewitterwolken ist, wie ihr Cover, traurig in ihrer Perspektivlosigkeit, rührend und gleichzeitig spannend. Die ohne Paukenschläge auskommt, die einen aber trotzdem anpackt, die ländlich bescheiden ist, die von tiefen Wurzeln erzählt, vom Glauben auch, von Hoffnungen und von unerfüllten Träumen. Sie hat, was eine gute Geschichte braucht, Figuren mit denen man mitfühlen will. 

Man liest wartet auf das, was da wohl aufzieht und seid gewiss, bevor die letzte Seite umgeblättert ist geschieht noch so einiges und das Ende ist auch nicht ohne! Bin ich das etwa die da ruft “Mensch, Paul?!”  … 

“Dünn wie ein Gazetuch hing der Nebel über dem bläulichen Gras. Es schien, als brächten die Linde und die große Rotbuche dahinter ihre eigene Dunkelheit hervor”. (Textzitat)

Verfasst von:

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert