Es ist Ende Juli in der Nähe von Dublin. Eine Schönwetterphase lädt ein den Sommer zu genießen. Cathal erinnert sich. An Sabine, die in der Normandie aufgewachsen ist, ihr Vater ein Franzose, der sich in eine Engländerin verliebt hatte. War sie für die beiden ein Geschenk gewesen, so wie er gedachte hatte, das sie eines für ihn war?
Budgetlisten, Ereignislosigkeit, ein seltsames Fremdeln anderen Menschen gegenüber und ein später Abend. Cathal erinnert sich an die Zeit vor etwas mehr als einem Jahr, als er sie kennengelernt hatte. Daran, wie gut sie kochen konnte, an das was er für Liebe gehalten hatte. Umständlich war sein Heiratsantrag gewesen. Irgendwie und schon beim Kauf des Verlobungsrings waren sie in ihren ersten Streit geraten. Vielleicht waren aber auch die im Grunde stillen Auseinandersetzungen im Supermarkt bei ihren Einkäufen der Stein des Anstoßes zwischen ihnen gewesen und als sie bei ihm eingezogen war, es ihm plötzlich zu eng wurde, seine gewohnte Ordnung durcheinander geriet, wie schwer ihm das gefallen war. Auch ihren Eigensinn und ihre Gewohnheiten zu akzeptieren, das Barfußlaufen selbst im Winter und wie sie mit Geld umging. Mit seinem. Ganz generell.
Misogynie, die Verachtung von Frauen, wo kommt sie her? Bei Wikipedia findet sich ein Eintrag über die Wortherkunft, die ins Altgriechische zurückführt, misógynos meint „Weiberfeind“. Die Wurzeln der Vorstellung Frauen seien weniger wert reichen tief, die Kämpfe zur Herstellung eines Gleichgewichtes, die in den 1950ziger Jahren begannen und die eben nicht beim Frauenwahlrecht enden, sind bis heute nicht ausgefochten. Solange wir darüber diskutieren müssen, dass Frauen im Beruf für die gleiche Arbeit auch den gleichen Lohn verdienen, sind wir noch nicht am Ende dieses Weges.
Claire Keegan greift diese Thematik in ihrer neuesten Erzählung “Reichlich spät” in der ihr gewohnten Art auf. Als Meisterin der Verknappung und des Weglassens, sprachlich glasklar und auf den Punkt. Lässt sie ihre Hauptfigur Cathal über die eigenen Erwartungen stolpern, entlarvt ihn und seine Frauenfeindlichkeit.
“Frauenfeindlichkeit bedeutet im Kern nicht geben zu können“, sagt sie und jemand der das nicht kann, ist in meinen Augen nicht nur ein Frauenfeind, dem fehlt insgesamt eine ganze Menge und eine wesentliche Grundzutat für das Miteinander: Die Empathie.
Das Alleinesein aufgeben für eine Partnerschaft in einer gemeinsamen Wohnung, räumlich jemanden Platz zu machen, bedeutet auch Verzicht, es braucht gegenseitige Rücksichtnahme. Ohne den festen Wunsch und Willen sich aufeinander einzulassen ist das undenkbar. Unlösbar. Dem anderen zu spiegeln wo er steht kann helfen. Muss aber nicht. Tut es auch nicht, wenn es nicht liebevoll geschehen kann.
Drum mochte ich Keegans Geschichte auch so gerne. Sie zeigt uns die funkelnden Facetten des menschlichen Miteinanders und des Scheiterns aneinander gleichermaßen, ungemein gekonnt und wie stets in aller Kürze. Die Printausgabe umfasst lediglich schmale achtundvierzig Seiten, die ungekürzte Hörbuchfassung rund eine Stunde. Sie wird gelesen von:
Robert Dölle, deutscher Schauspieler, geboren am 29. Oktober 1971 in Frankfurt am Main, vielleicht ist er Euch bekannt aus der ein oder anderen Tatortfolge. Zurückhaltend und mit einer leichten Traurigkeit, die er unter Keegans Sätze legt trägt seine Stimme diesen Text. Der ein unaufgeregter ist, der es unterschwellig versteht einen aufzuregen, aufzuwühlen, nachdenklich zu machen. Dölle lässt die Geschichte wie eine Seifenblase schweben und mich ihre leisen Töne laut hören. Sie machen den Unterschied dieser sehr hörenswerten Produktion des BonneVoice Hörverlages aus, der auch die beiden Vorgängertitel von Keegan als Hörbücher herausgegeben hat. Beide empfehle ich ebenfalls von Herzen gerne und füge die Links hinter den Covern zu meinen Beiträgen nachfolgend ein. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle für das Download-Exemplar zur Besprechung beim Verlag. Seit dem 26.03.2024 ist die Hörfassung bei vielen gängigen Downloadportalen erhältlich und damit noch vor der Buchausgabe, die ab Mitte April bei Steidl verfügbar sein soll.
Das Ende der Geschichte ist ganz plötzlich da und einfach so lässt Claire Keegan mich stehen. Wie eine Vollbremsung fühlt es sich an, aber meine Hände sind nicht leer. Im Gegenteil. In meinem Kopf summt es. Prägung, Erziehung, die Gesellschaft, was bewirken sie in uns, formen welche Menschen aus uns?
Hier reift reichlich spät eine Erkenntnis, fällt reichlich spät eine Entscheidung, die das ohnehin nicht gerade wertschätzende Frauenbild eines Mannes für immer verändert hat. Eines Mannes, der mit einem anderen Vater vielleicht ein Anderer geworden wäre. Der einer Frau begegnet, die mutig für sich nach ihrem Wissen und Gefühl entschieden hat. Ich kann beide verstehen, deren Lebenswege sich hier kurz berührt haben. Allerdings verstehe ich noch immer nicht, worin sich eine generelle Verachtung Frauen gegenüber gründet.
Keine der anderen Geschichten von Keegan hat mich so lange noch, nachdem der letzte Satz ausgesprochen ist, nachdenken lassen und das schafft sie genau deshalb weil sie endet, wie sie endet. Abrupt und zornig und traurig auch. Mir schwirren tausend Fragen durch den Kopf. Fragen, die vorher nicht da waren. Genau dafür ist Literatur da. Sie öffnet Horizonte dort wo sie verstellt waren. Das ist großartig und
Claire Keegan, geboren 1968 in der irischen Grafschaft Wicklow, die bereits mehrfach für ihre Erzählungen ausgezeichnet worden ist wird, völlig zurecht, als eine der bedeutendsten Autor:innen Irlands gehandelt. So late in the day heißt ihr Titel im Original, den klangvoll und einfühlsam Hans-Christian Oeser übersetzt hat. Tatsächlich mag ich den deutschen Titel sogar noch lieber, weil er in seiner Doppeldeutigkeit so gut passt. Auch das Cover fängt einen Schlüsselmoment ganz herrlich ein. Viel Freude Euch beim Entdecken!
Jedes Mal, so auch diesmal, wäre ich gerne noch länger geblieben bei Keegans Figuren und dann auch wieder nicht. Weil sie es mir so ermöglicht meine eigene Gedankenfäden weiter zu spinnen. Was wunderbar ist! Ganz und gar.
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