Power (Verena Güntner)

*Rezensionsexemplar*

Freitag, 13.03.2020

Es wird langsam hell und ich denke mit der ersten Tasse Kaffee des Tages über diese Geschichte nach, die ich gestern beendet habe. Darüber und wie ich eigentlich zu Hunden stehe. Eigentlich hatte ich immer einen haben wollen, bis zu dem Tag, an dem mich der hinterlistige Pudel unserer damaligen Nachbarn gebissen hatte und ein ungeduldiger Kinderarzt mir eine Tetanusspritze in den Popo jagte, nach der ich wochenlang nicht sitzen konnte. Vor Spritzen und Hunden habe ich seither gleichermaßen Respekt und ich begegne auch dem niedlichsten Vierbeiner mit Misstrauen.

Wohingegen der Trend in vielen Familien heutzutage sogar zum Zweithund geht. Nicht immer werden die Tiere auch gut behandelt, für viele jedoch, besonders für Alleinlebende, werden sie zum Familienmitglied und wenn dieses krank wird, oder gar verstirbt, entsteht eine schmerzende Lücke …

Power von Verena Güntner

Power ist ein Hund, der Hund von Frau Hitschke und Power ist weg. Seit gestern und sein Frauchen komplett aufgelöst. Kerze übernimmt, den Suchauftrag, nimmt die Spur dort auf, wo “die Hitschke” ihren Power zuletzt gesehen hat. Vor dem Edeka. Sieben Wochen liegen jetzt vor Kerze, sieben Woche der Suche. Sieben Wochen des Vermissens für Frau Hitschke.

Das nimmt die Autorin vorweg und auch das Ergebnis. Ich denke bei mir, darum allein kann es also nicht gehen, obwohl der Titel des Romans so heißt wie der Hund.

Es geht tatsächlich auch um eine andere “Power”. Um die von Kerze zum Beispiel, die für viele ein Licht ist und für die das Halten von Versprechen Pflicht ist. Es geht um das Vermissen, es geht um Gemeinschaft. Es geht um Geister, um die, die in Bettlaken stecken und um die anderen, die einen verfolgen, bedrängen, ratlos und furchtsam sein lassen. Die sich nicht abschütteln lassen, denen man am Abend ein Fenster im Schlafzimmer offen lassen muss. Es geht um Bauern, ihre Söhne, um Landmaschinen, wütende Hofhunde und Erntehelfer aus dem Ausland, und um das was man tun muss, wenn es eben getan werden muss. Um das Leben halt, um einen Mikrokosmos, um den Mikrokosmos Dorf.

Wer lügt bekommt rote Ohren und wer böse ist hat kleine Augen. Diesen Fakten muss man sich stellen, so einfach ist das, zumindest für Kerze und Flori ist eindeutig verdächtig. Schließlich hat er, als er vier war, Sarahs Katze geklaut. Das kann er noch so abstreiten!

Die furchtlose, pflichtbewusste Kerze, deren Freund der Wald ist, ermittelt in eben demselben. Den kleinen Tannen schaut sie dort gern beim Wachsen zu, hat Achtung vor allem was da kreucht und fleucht. Der Wald beim Dorf spielt eine zentrale Rolle in dieser Geschichte, in ihm kann man sich verlieren, in ihm kann man sich aufgehoben fühlen, an ihn kann man sich erinnern. An unbeschwerte Tage, an das Kindsein.

Salamibrote und eine Rückschau auf den Tag. Einen Papa gibt es offenbar im Haushalt von Kerze nicht. Verlassen und allein gelassen. Es geht um Verbundenheit, darum seine Angst, auch die verborgene niederzuringen.

Wie eine moderne Pippi Langstrumpf kommt sie mir vor, diese Kerze, mit ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und ihrer Hilfsbereitschaft. Kerze mag wie Pippi auch die Schule nicht, weil sie dort fraglos immer das Falsche lernt. Empathisch ist sie, aber eine kleine Despotin, eine kleine Bestimmerin steckt auch in ihr, aber wer Kerze zur Freundin hat, hat Glück. Wie eine Ritterin in zerlumpter Rüstung, ist sie, die auch zu wissen scheint, wie man die Geister vertreibt, die im Dunkeln kauern. 

Mit fünf hat Kerze ihre Oma beerdigt und ihr einziges Kuscheltier mit ihr. Heute mit elf, ist sie mit ihrem wachen Blick den Erwachsenen im Ort eine Nasenlänge voraus und ihre Mutter, die hat sie auch im Griff …

“Das Leben ist eine ernste Sache, und ich hoffe, dass du das im Blick hast, Mama.” 

Textzitat Verena Güntner Power

Eine Hundertjährige Oma hat es hier, die ständig ihre Ziege verliert und es hat auch Henne, der unbedingt Nazi werden will. Alle hat er mittlerweile gefragt ob sie nicht auch Nazis sein wollen. Kerze und Flori halt auch.

Eine meiner Lieblingsszenen ist das. “Kindermund tut Wahrheit kund”. Kerze und Flori haben natürlich NEIN gesagt, das obwohl sie nicht einmal richtig wissen was das ist, ein Nazi sein. Offenbar hat man da Angst, das einem jemand etwas wegnimmt. “Scheiße” sagt, Flori, dann bin ich ja doch ein Nazi!”

Erfrischend, prickelnd wie ein Glas Limo, das man in einem Zug leeren kann wenn man Durst hat. So ist sie diese Geschichte. In Null komma Nix hat man sie aufgesogen, dann pitzelt es noch ein bisschen auf der Zunge und im Bauch gluckert es.

Jeder kennt jeden und scheinbar jedes Geheimnis. Zu Beginn hat mich diese Dorfgemeinschaft an Mariana Lekys “Was man von hier aus sehen kann” erinnert. Eine ähnlich liebenswerte Erzählstimme hat Verena Güntner auch. Diese Gemeinschaft hier, hat aber auch eine hässliche Fratze und sie zeigt sie auch, dann als die Kinder-Suchtrupp verschwindet und für die Eltern feststeht wer hier die Schuld trägt.

Alltagsgrausamkeiten und die Angst sich zu wehren, wer kennt das nicht? Hier befällt sie nicht nur die Kinder. Schnell ist da von Anstiftung die Rede, von fehlendem Verantwortungsbewusstsein auch und davon, dass es wohl immer einen Schuldigen braucht, oder eine die Schuld hat ….

Eine Ahnung arbeitet sich in mir an die Oberfläche, warum es für “die Hitschke” so schwer ist, dass ihr der Hund entlaufen ist. Derweil entfliehen die Kinder einer Welt, die aus Regeln besteht, Massregelungen, Verboten und Vorschriften. Wie an Fäden gezogen, ein klein wenig Rattenfänger-von-Hameln-Gefühl kommt auf, gemischt mit einer Prise Peter Pan, der ja auch auf seiner Insel über die Verlorenen Jungs herrschte. Freiheit! Alle Konventionen abstreifen, die Kinder machen es uns vor und dennoch, keine Gesellschaft funktioniert ohne eine Ordnung. In der kleinen Truppe um Kerze gibt es rasch auch eine Hackordnung, die sich wie von selbst gefügt hat. 

Diese Rasselbande, die sich da zusammenfindet und auf die Suche nach Power macht hat schon was. Kerze ist ihr Boss. Ins Bett gehen ohne waschen und Zähneputzen, am nächsten Morgen die Schule schwänzen und weiter suchen. Wie sich dieser Trupp hier die Welt erklärt, ist einfach nur herrlich!

Verena Güntner, geboren 1978 in Ulm, ist deutsche Schauspielerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Berlin-Schöneberg. Power ist ihr zweiter Roman, und in diesem Jahr nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. Leider hat sie diesen Preis verpasst.

Wenn Autoren selbst lesen, dann bin ich vorsichtig, nicht ein jeder kann auch wirklich gut vortragen. Güntner hat ja eine Schauspielausbildung, was soll da schief gehen, dachte ich und entschied mich für die Hörbuch-Fassung ihres Romans. Wenn sich hier die Kinderbande in Wortgefechten die Bälle zuwirft, läuft sie zu Hochform auf. Es ist eine helle Freude ihr dabei zu folgen, wie sie alle Bälle in der Luft hält. Rotzfrech, vorwurfsvoll und kratzbürstig, herzerfrischend ist das!

Ich lache, dann wieder kommen mir die Tränen. Ich breite meine Arme aus und möchte Kerze drücken. Güntner schickt mich in ein herrliches Wechselbad. Mensch, Kerze, mit dir kann man echt Pferde stehlen!

Sprachlich ist Güntner modern unterwegs, ein bisschen vorlaut ist ihre Heldin und Güntners Vorlesestimme paßt dazu, leicht rau und ihr Vortrag ist etwas abgehackt. Harte, kurze Satzpausen setzt sie ein. Das schauspielerische Element lässt sie beinahe komplett außen vor, ist bisweilen nüchtern und das hat mir gefallen. Leicht distanziert liest sie streckenweise, als sei es gar nicht ihr eigener Text und als wüsste sie nicht, was als nächstes kommt, genauso wie ich es nicht weiß, was da hinter der nächsten Satzbiegung auf mich wartet.

Beinahe unmerklich kippt die Geschichte ins leicht skurrile. Sie hat zugleich etwas sanftes, etwas das zwischen den Zeilen steht, das ich nicht genau zu benennen vermag. Etwas das mich bewegt hat, ohne mich anzuschieben. Etwas das mich vorantreibt durch die Silben, ohne mich zu hetzen.

Wie Güntner auflöst, Motivationen aufdeckt, Hintergründe anleuchtet, hat mir sehr gefallen. Sie schließt einen Kreis, der immer schon da war, den sie im Verlauf ihrer Geschichte aber geschickt und gut vor mir verborgen hat.

Rückwärts betrachtet, vorwärts erzählt, besonders und so, dass es wohl keine Schublade gibt, in die dieser Roman so einfach einsortiert werden kann. Eine Geschichte, aus der jeder etwas eigenes mitnehmen kann, für die man loslassen, auf die man sich einlassen muss. Sie hat etwas das mich unbedingt und eilig zum letzten Satz kommen lassen will und etwas das sagt, spul nochmal zurück, sonst ist sie viel zu schnell zu Ende … Das liebe ich!

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