Er war ein Skandal-Künstler, provozierte, polarisierte. Mit seinen Werken und mit seinen Ansichten. Henri Robert Marcel Duchamp, geboren am 28. Juli 1887 im Nordwesten Frankreichs, Sohn eines Notars, Bruder von fünf Geschwistern. Von denen drei, ebenso wie er die Kunst zum Beruf machten, Maler oder Bildhauer wurden. Sein Studium an der Akademie Julien in Paris startet mit dem Stil des Impressionismus 1904. Bereits 1912 hatte er sich, inspiriert vom Kubismus davon verabschiedet, und löste mit seinem Bild “Akt eine Treppe hinuntersteigend” eben wegen seiner unerhört abstrakten, für die damalige Zeit ungewöhnlich kubistischen Darstellung, einen Skandal aus. Wie gesagt sollte dies nicht der letzte bleiben. 1913 erschuf er sein erstes Ready Made “Das Rad”, indem er das Rad eines normalen Fahrrades auf einem Sockel befestigte und der Öffentlichkeit präsentierte. Er vertrat jetzt die Ansicht, das es bereits dann Kunst sei, wenn er als Künstler Duchamp einen Gegenstand erwähle. So ließ er schon mal 1.200 Kohlesäcke von der Decke baumeln. Erhob von 1915 – 1923 noch zahlreiche weitere, auch und besonders normale Gebrauchsgegenstände, zur Kunst. Unter ihnen, skandalträchtig wie schon gesagt, ein Urinal (1917) und einen Flaschentrockner aus Eisen (1914), den er in einem Pariser Kaufhaus selbst erwarb und noch vor Ort signierte. Fertig war das Ready Made!
Klingt ganz schön schräg und auch revolutionär, nicht? Wenn ich Euch jetzt verrate, das dieser Künstler und sein Wirken in der brandneuen Geschichte verortet sind, die ich Euch heute mitgebracht habe, ist dann Eure Neugier geweckt? Also meine war es und mindestens genauso so sehr hat mich seine Einschätzung dieses Debüt-Romans, der von Werner Löcher-Lawrence übersetzt worden ist, in diese Geschichte gelockt. Colson Whitehead. Er wird mehr als wohlwollend auf dem Buchrücken zitiert:
Philadelphia Underground von Augustus Rose
Lee war sechs, als sie das erste mal stahl. Sieben als ihr Vater verschwand und mit acht nahm sie dann täglich irgendeinem Mitschüler was weg. Einfach weil sie es haben wollte und weil sie es konnte? Lange dauerte es nicht, bis sie dann richtig ins Geschäft kam. Sie klaute auf Bestellung für ihre Mitschüler. Klamotten. Drogen. Sammelte das Geld. In einem alten Koffer unter ihrem Bett. Für das College. Was ihre Mutter und ihr Neuer für Blödsinn hielten.
Lee war siebzehn als ihre beste Freundin sie fallen ließ und einen Batzen Kokain in ihrem Schulspind versteckte. Was nicht klappte. Man, die Polizei, fand den Stoff. Lee schwieg und wanderte in den Jugendknast. Was kein Spaziergang war.
Lee gelang die Flucht. Wusste nicht wohin. Die Straße schien der beste Platz. Dort sammelte sie ein Mädchen auf. Sie kannte einen sicheren Ort, dort gab es einen Schlafplatz und auch was zu Essen, Kleidung, wenn man einen Beitrag leistete. Betteln zum Beispiel.
Den Mann, der dieses Haus hütete nannten sie den Stationsvorsteher und Lee wollte ihn mögen. Er schien sie zu sehen und was er verbarg, was sich hinter den verschlossenen Türen im zweiten Stock befand, das würde sie schon auch noch raus kriegen …
Abwärts entlang eines roten Treppengeländers. Wummernde Musik brandete die Treppe aufwärts. Ich glaube ich weiß wo mich diese Geschichte hinführt, aber ich will es nicht glauben. Will es nicht …
Augustus Rose, geboren in Bolinas Kalifornien, hat viele Jahre in Buchhandlungen gearbeitet, er verfasste neben literarischen Texten bislang Drehbücher und lehrt literarisches Schreiben an der University of Chicago. Seine Leidenschaft gilt Marcel Duchamp und diesen Ausnahmekünstler stellt er auch in das Zentrum seines ersten Romans. Mit welchem Anspruch er das tut, das meine ich inhaltlich, nicht so sehr sprachlich, das hat mich wirklich beeindruckt.
Philadelphia Underground steht seit Anfang August in den deutschen Buchläden. Mich hat diese Geschichte durch ihre Rasanz und die Unerschrockenheit ihrer Heldin bestens unterhalten. Es passiert viel auf diesen 455 Seiten und ich musste mir beim Rezensieren ständig auf die Zunge beißen um nicht zu spoilern. Keine Seite lang habe ich es bereut, der eingangs erwähnten Empfehlung von Colson Whitehead gefolgt zu sein. Ein Roman, den ich auch jungen Erwachsenen empfehlen möchte, die einmal abseits der Fantasy unterwegs sein wollen, nicht zuletzt wegen der gut verpackten Kernbotschaft, immer aufrecht seinen Weg zu gehen und sich für das einzusetzen was gut ist und gut bleiben muss.
Albert Einsteins Relativitätstheorie, die Stringtheorie und last but not least Marcel Duchamps Schaffen, sowie eine sehr eigenständige Interpretation desselben haben mich komplett abgeholt. Sollte es mich einmal nach Philadelphia verschlagen, werde ich dem Museum of Modern Art und der Abteilung von Duchamp auf jeden Fall einen Besuch abstatten. Von diesem Mann will ich auch einmal etwas “life” sehen. Ein Mann der zwischen 1946 und 66, also 20 Jahre lang im Geheimen an seinem größten Kunstwerk “Etant Donne’s” gearbeitet hat. Ein Mann, dessen Kunstwerke der Nachwelt nicht alle erhalten geblieben sind. So sagt man, dass seine Schwester, die ihm, der häufig auf Reisen gewesen ist, mehrfach den Haushalt geordnet hat, angeblich einige seiner Objekt unwissentlich in den Müll geschickt hat. Ein Mann, der seine Grabinschrift selbst verfasst hat, die da lautet: “Im übrigen sind es immer die anderen, die sterben.”
Richtig gehend angefixt bin ich, um im Drogenjargon zu bleiben. Denn auch sie spielen hier eine Rolle. Bewußtseinserweiternde Drogen nämlich, sie sind der Dreh-und Angelpunkt in der Hatz, dem Katz-und Mausspiel um Lee, die jugendliche Heldin aus der Feder von Rose. Sie und ein verhängnisvoller Diebstahl eben eines kleinen Objektes von Duchamp. Welches Lee bei einem nächtlichen Ausflug in den Untergrund des Museums für Moderne Kunst in Philadelphia quasi im Affekt mitgehen ließ. Aber wer ist hier die Maus und wer die Katze …
Seinen Spannungsbogen baut er um sie, um Lee. Ganz allmählich, aber unaufhörlich entfaltet diese Geschichte dabei ihren Sog. Spannend ist jetzt doch nicht der passende Ausdruck. Mitreißend passt besser. Oder doch eher beklemmend? Nein, eigentlich trifft doch alles drei zu. Hier ist eine Story entstanden die nicht actiongeladener sein könnte und die gleichzeitig versucht ein Werk zu durchdringen, das komplexer nicht sein könnte. Augustus Rose bringt Menschen in Verbindung miteinander die sich durch die Jahre hindurch gar nicht berühren können. Hut ab für diesen Mix, der in keine Schublade passt und gehört.
Ein Leben auf der Straße. Oder besser noch in Häusern, die von ihren Bewohnern für die Dauer eines Urlaubs verwaist zurückgelassen worden waren. Das klang schon besser. Professionell unterstützt der Datenrekonstrukteur Tomi unsere Heldin. Er organisiert die Adressen und Lee schlüpft in diese Wohnungen und Häuser wie in eine zweite Existenz.
Schlösser knacken, Tresore auch. Lee hat einen guten Lehrer. Von irgendwas muss sie ja schließlich nach dem Jugendknast leben. Hier bekam man nichts geschenkt. Aufgeben war keine Option. Wenn man in diese Augen geblickt hatte, die leer waren und wie erstarrt, aber noch im Körper von Lebenden steckten … Bald schon ist für Lee und für mich nicht mehr klar, wem sie noch vertrauen kann. Im echten Leben und auf Recherchetour im Darknet.
Die Kombination eines intelligent gestrickten Plots mit jeder Menge Fakten für Kunstbegeisterte hebt diesen Roman für mich aus der Masse heraus. Hier kann man nicht nur abtauchen, man muss mit der Heldin auch untertauchen, denn es wird mordsgefährlich. Jemand scheint eine Menge zu verlieren zu haben und setzt alles auf eine Karte, zu Lasten von Lee. Diese Societé Anonyme was war das für eine Gesellschaft? Überall schien sie ihre Finger drinnen zu haben und auch ihre Verbindungsleute. Brutal und skrupellos agieren ihre Helfershelfer in diesem Netz aus Intrigen und sie wissen sich gut zu verbergen …
Mittels geschickter Wendungen erzählt, kann sich keine der Figuren sicher sein, und auch ich als Leserin wusste nicht, wen wird Rose am Ende am Leben lassen? Wen wird er noch opfern? Bösen Mächten, oder dem Kampf für das Gute. Dafür braucht es eine Heldin, die nicht aufgibt, die zwar noch jung an Jahren ist, sich aber trotzdem nicht unterkriegen lässt, unbeirrt Tiefschläge einsteckt, die aber auch austeilen kann. Die ein feines Gespür hat für Dinge, die man nicht mit den Augen sehen kann. Und nicht alles kann man schließlich auch mit den Augen erkennen, auch wenn dem Betrachter eines Kunstwerkes immer eine eigene, eine besondere Rolle zukommt und ich liebe Geschichten wie diese dafür, das sie unsere geläufigen Ansichten auf den Prüfstand stellen …
“Materie existiert nur in jenen winzigen Momenten, wenn sie mit anderer Materie verbunden ist. Sonst gibt es sie einfach nicht. Die Welt besteht nicht aus Objekten. Die Welt besteht aus der Beziehung zwischen ihnen.”
Textzitat Augustus Rose
Mein Dank geht an den Piper Verlag für dieses Rezensionsexemplar und für die Lust auf einen Museumsbesuch die es bei mir ausgelöst hat. Eineindeutig!
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