Pflaumenregen (Stephan Thome)

Portugiesische Seefahrer entdeckten um 1517 die Insel Taiwan vor der chinesischen Küste, nannten sie die “schöne Insel”, Ilha Formosa. Die Niederländer besetzten 1624 den Süden dieser Inselschönheit und stationierten ihre Ostindien-Kompanie in Tainan, machten sie zu “Ihrer” Hauptstadt. 1626 eroberten die Spanier die Nordhälfte der Insel um sie 1641 wieder an die Niederländer zu verlieren. 1661 kamen die Chinesen mit 35.000 Soldaten und Taiwan ging an China. 1895 verloren die Chinesen nach dem ersten chinesisch-japanischen Krieg Taiwan an Japan, die Insel wurde japanische Kolonie und sollte es bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bleiben. Im Jahr 1949 flohen rund zwei Millionen Chinesen, darunter der General Chiang Kai-shek, Gegenspieler Mao Tsedongs im chinesischen Bürgerkrieg, nach ihrer Niederlage gegen die Kommunisten nach Taiwan. 1950 eroberten die Truppen Maos dann Tainan. Korruption, Schwarzmarkt, blutige Aufstände, die Geschichte Taiwans ist mehr als wechselvoll, sie war ausgeprägt betroffen von alliiertem Bombardement und ich stelle fest, – ich weiß viel zu wenig davon.

Wer ist man, wenn man nicht sein darf wer man ist? Wenn immer andere wissen, welche Werte und Lebensart die richtigen sind und man nach ihren Maßstäben zu handeln hat? Wenn man seinen Namen, seine Sprache ablegen MUSS?!

Pflaumenregen von Stephan Thome

Nicht ausreichend kriegsbegeistert. Das selbst, nein, auf jeden Fall die Grundschulkinder patriotisch erzogen werden mussten, hatten sie als Lehrkräfte sicherzustellen. Der Herr Direktor bestand darauf.

Der Angriff auf Pearl Harbor, den Perlen Hafen der Amerikaner, lag noch nicht lange zurück und die Japaner hatten sich damit die ganze Welt zu Feinden gemacht. Jetzt planten sie in ihrer Kolonie Taiwan, am Rande einer Kupfermine, ein Lager für ausländische Strafgefangene zu errichten. Von ihrem Schulhof aus konnten sie täglich sehen wie die Mauern wuchsen und permanent waren jetzt Militärs anwesend in ihrem kleinen Ort.

Die Wände sind dünn, papierdünn in Umekos Zuhause und man hörte nicht nur die Gespräche der Nachbarn, sondern auch wenn die Eltern streiten, sowie jedes Wort, das man im Vertrauen wechseln wollte. Blieb nur, seine Sorgen bei sich zu behalten und dann, wenn man zu viele von ihnen gesammelt hatte kam bei Umeko das Fieber, das war immer so …

Die Geschwister Umeko und Keiji leben am Rande zweier Edelmetallminen. Er, Keiji, Shootingstar im Baseball, sie sein größter Fan. Im Grundschulalter ist sie, als wir sie zu Beginn des Krieges in der Geschichte kennenlernen und wir werden immer wieder von ihr hören, bis sie ein Alter von 82 Jahren erreicht. Die Erzählung bewegt sich auf mehreren Zeitebenen hin und her, einer der größten Sprünge führt uns in das Jahr 2016.

In diesem Jahr ist Harry ist auf Heimatbesuch in Taiwan, auf Spurensuche, gemeinsam mit seinem Sohn Paul. Er, der seit Jahren in den USA lebt, hat viele Fragen im Gepäck, nicht wenige an seine Mutter, das ehemalige “Pflaumenkind” Umeko, die nicht nur ihren Namen an die Chinesen verlor, die hier während der japanischen Kolonialzeit aufwuchs, die den Wechsel der Macht am eigenen Leib erfahren hatte, die von der Taiwanerin zur Japanerin und dann zu Chinesin hatte werden müssen …

Stephan Thome, geboren am 23. Juli 1972 in Biedenkopf. Der Sinologe und studierte Philosoph lebt seit 2011 als freier Schriftsteller in Taipeh, ist verheiratet mit einer Taiwanerin und macht keinen Hehl daraus, das er Sympathien hegt für die Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Wahlheimat. Er fühle sich mit und durch den Teil der Familie seiner Frau auf eine Art verbunden, die es ihm jetzt ermöglicht habe über die Geschichte Taiwans aus einer Innenansicht heraus zu schreiben.

Schon seinen Roman Gott der Barbaren, der 2018 in dem Jahr, in dem Inger-Maria Mahlke den Deutschen Buchpreis gewann, ebenfalls zu den Nominierten der Shortlist gehörte, verortete er im asiatischen Raum und historisch. In seinem aktuellen hat er sich erneut für Asien als Handlungsort entschieden. Sprachlich ist er wie gewohnt eine Bank, stilistisch eher sachlich , aber literarisch geschliffen, erzählt er diesmal von Traditionen, Pflicht und Träumen. Die Emotion wurzelt bei ihm in der Tiefe. Sie wird durch die Nähe zu seinen Figuren geweckt, wenn er Schuld und Tabus ganzer Generationen transparent macht. Er schreibt über einen Krieg, den wir Europäer vielfach nur aus unserer alleinigen Perspektive betrachten. Zeit für einen Wechsel, einen Blickwechsel, auf das was auf der anderen Seite der Welt in dieser Zeit, davor und danach geschehen ist.

Die Autentizität mit der Stephan Thome schreibt war mir ein dicker Pluspunkt für diesen Roman, in den ich zunächst nicht gut hineingekommen bin. So habe ich denn von Baseball nicht nur keine Ahnung, sondern ich habe darauf auch keine Lust, die Leidenschaft für dieses Spiel dominiert jedoch die ersten Kapitel der Geschichte so, das mein Interesse schon zu erlahmen drohte. Die Taiwaner lieben diesen Sport und deshalb übte ich mich in Geduld und wurde belohnt.

Samurai-Geschichten, Geisterbegegnungen, Stimmen, Schreie und ein heraufziehender Sommer. Marschmusik aus dem Radio, reichlich Sake und – war der Angriff auf Hawaii nicht ein Geniestreich? Die Kapitulation der westlichen Mächte musste unmittelbar bevorstehen. Das zumindest meinte die staatliche Propaganda. Sie war unüberhörbar.

Ein ganzer Ort in banger Erwartung, “die mit den Spitzen Nasen” würden kommen, viele von ihnen. In Jinguashis Goldmine, wie Kinkaseki heute auf chinesisch heißt, wurden die Männer entlassen und zu Soldaten gemacht, Gold brauchte man jetzt nicht, aber Kupfer für den Bombenbau. Deshalb sollen SIE künftig in ihrer Kupfermine schuften, ihre Gefangenen, die “englischen Teufel”. Dort müssten sie gut klar kommen, denn in der Tiefe der Mine war es höllisch heiß. In insgesamt 14 Kriegsgefangenenlagern waren damals in Taiwan Gefangene interniert, hunderte von ihnen kamen um, die meisten davon hier. In Kinkaseki. In Umekos Heimatort.

Unübersichtliches Gelände, ein langer Marsch war täglich nötig um vom Gefangenenlager zur Mine jenseits des Teekannen-Berges zu gelangen. Wo Minenlandschaften, staubige, stockdunkle Schächte, Kinder unter Tage und Massengräber warteten. Grundschüler lernten was es hieß im Krieg zu sein. Sie lehrten die Mädchen was passierte, wenn sie feindlichen Soldaten in die Hände fallen würden:

“Anfangs hatte sich Umeko den Krieg wie einen Drachen vorgestellt, der mit seinen gewaltigen Füßen und dem wild herumpeitschenden Schwanz alles zerstörte, inzwischen besuchte sie die sechste Klasse der Grundschule und wusste, warum man dem Feind nicht lebend in die Hände fallen durfte: Alle Männer wurden kastriert und die Frauen vergewaltigt.”

Textzitat Stephan Thome Pflaumenregen

“Die einzige Industrie, die noch funktionierte verarbeitete Menschen zu Leichen” schreibt Thome und ich zucke zusammen angesichts der Zahl 228 und seiner Schilderungen das Blutbad des 28. Februar 1947 betreffend, als ein Aufstand auf der Insel in einem Massaker endete, und bei ethnischen Säuberungen in der Folge in Taiwan Zehntausende zu Tode kamen. Wer weiß hierzulande davon? Wir erinnern uns mit Grauen an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, an den Kampf um Bodenschätze, um Land, um die Mandschurei und seine Folgen aber wohl eher nicht.

Die Geschichte beginnt sich fein zu verästeln. Thome entführt in diese mit politischen Konflikten aufgeladene Zeit souverän und mit leichter Hand, wechselt in die Zukunft und ich lerne Julie kennen, Zhu-li, Geschichtsstudentin und Nichte von Oxford-Professor Harry Chen. Sie, die verstehen will was im Heimatland ihrer Familie, mit ihrer Familie im Zuge der Machtwechsel geschehen ist. Warum geschwiegen wird und worüber es zu schweigen gilt …

Helden, Flaggen und ein Meer aus Menschen.

Kinder haben Ohren, keinen Mund! 

Widerstand regt sich. Sich politisch zu engagieren scheint zwingend und Keiji ist bald schon mittendrin und wir ahnen längst, dass konträre Meinungen nicht ungestraft bleiben …

Sieger und Besiegte. Alles ändert sich schnell. Gesinnungen wechseln, Freund wird zu Feind. Seinen Namen darf man nicht mehr tragen. Seine Sprache nicht mehr sprechen. Es gibt Schläge. Mit dem Lineal. Auf die Hände. Wenn man die falschen Worte benutzt.

Wurzeln, Heimat und Herkunft. Stefan Thomes Figuren spüren dem nach was Identität gründet und ihm geht es um die Identität eines ganzen Volkes. Seine Wahlheimat liegt ihm am Herzen, das spürt man in vielen Sätzen, sie wirken wie eine Verbeugung, eine respektvolle. Und auch sie gibt es im Roman, die wortlose Verbeugung, unversöhnlich höflich, nur Japaner konnten das, schreibt Thome und gibt seiner Geschichte eine Grundstimmung, die in mich hineingekrochen ist und die mir besonders gefallen hat.

Sein Roman ist wie ein modernes Geschichtsbuch, ich lernte eine ganze Menge, das völlig unangestrengt und wie nebenbei. Das macht Stephan Thome verlässlich großartig: Wissenswertes in eine gute Geschichte packen. Diese trägt sein Herz auf der Zunge und ich mochte den Erzählstil, sowie die Ernsthaftigkeit Thomes – und seine epische Ader, ja die mag ich auch.

Schweigen legt sich auf die Zeit. Schweigen liegt auf der Zeit und so endet dieser, sein Roman, wie eine Reise ohne Ende. In aller Konsequenz und lässt mich nachdenklich zurück …

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