Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise (Jean-Paul Dubois

Eine Kirche. Verschluckt von einem Meer aus Sand. Im 14. Jahrhundert hatte man sie nur einen Steinwurf vom Meer entfernt errichtet. Lange bevor man das Gotteshaus endgültig aufgeben musste, schaufelten die Gemeindemitglieder mühevoll und geduldig regelmäßig den Eingang und das Kirchenschiff frei. Heute ist ihr Turm im Sand eine Sehenswürdigkeit in Skagen/Jütland und für den Vater des Helden dieser Geschichte war die Unerbittlichkeit mit der man seinerzeit um diese Kirche kämpfte Auslöser und Grund für seinen Beruf, seine Berufung. Er wurde Pastor, heiratete, zeugte einen Sohn, der mir einer der liebsten Helden in der Buchwelt geworden ist und dem ich hinter Gittern das erste Mal begegne:

“Zu dieser Stunde schläft das Gefängnis. Nach einer gewissen Zeit, wenn man sich an seinen Stoffwechsel gewöhnt hat, hört man im Dunkeln sein Atmen wie das eines großen Tiers, hin und wieder Husten und sogar Schlucken. Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwei Magenkrämpfen, schlafen und leben wir, so gut es geht.”

Textzitat Jean-Paul Duboi Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise von Jean-Paul Dubois

Montréal/Kanada. Haftanstalt Bordeaux. 1.357 Häftlinge, davon bis 1962 hingerichtet durch den Strang: 82. Seit neun Monaten teilte Paul Hansen jetzt mit Patrick, einem Hells Angel, (Marke harte Schale, weicher Kern) Kloschüssel und diese Gefängniszelle. Seit dem 4. November 2008, um genau zu sein, dem Tag an dem man Barack Obama zum Präsidenten gewählt hatte, war er zu zwei Jahren geschlossenem Vollzug verurteilt und hierher verlegt worden.

Den Ratten entkommen konnte man nur wenn man die Augen schloss und schlief. Festgelegt, überwacht, in Routinen gefangen, aus jeglicher Verantwortung entlassen, das war jetzt also sein Leben. In diesem Winter war das eines in Eiseskälte. In ihrer Zelle stieg das Thermometer meist nicht über vierzehn Grad und die zusätzlich verteilten Decken wärmten nur wenig. Eher suchten auch die Nager noch unter ihnen Schutz …

Jean-Paul Dubois, geboren am 20. Februar 1959 in Toulouse, studierte Soziologie, begann sein Arbeitsleben Baustellen, als Möbelfotograf, arbeitete dann 25 Jahre als Journalist. Bereiste die USA, verfasste Essays und veröffentlichte 1984 seinen ersten Roman. 2019 erhielt er für diesen hier, mit sechs zu vier Stimmen, den Prix Goncourt und warf damit überraschend die favorisierte belgische Autorin Amélie Nothomb aus dem Rennen.

Mich wundert es nicht, denn dieser Text von Dubois hat eine Poesie, der man sich nicht entziehen kann. Sprachlich wurde er so für mich zu einem Highlight. Nachdenklich und mit einer Melancholie hat Dubois ihn ausgestattet die mich berührt hat. Es sind diese leisen Töne, wie er sich mit Andeutungen anschleicht, mich mit Metaphern ungarnt, die mich nicken und sagen lassen: Deshalb lese ich gerne. Was ich in diesem Fall gar nicht getan habe und “je ne regret rien”, ich habe mich Torben Kessler hörend anvertraut. Er liest mir vor, wie ich das von ihm gewohnt bin, mit vornehmer Zurückhaltung, um dann wieder leidenschaftlich sein Herz in jeden weiteren Satz zu legen. Er gibt dem Text Raum, verleiht den Figuren eine Körperlichkeit, das man meint sie mit Händen greifen zu können und gut zu kennen.

Veruntreuung, Schulden, Pferderennen, Wetten, der Teufel hat einen Fuß in der Tür und jemand kriecht durch das Rohrsystem des Schicksals, davon schreibt Dubois und auch mit diesen Worten, die mich staunen machen. Immer wieder. Wo findet man solche Sätze? Wie kommen einem die in den Sinn? Seine beiden Übersetzerinnen Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver,  müssen ihn sehr gut kennen um eine Übertragung ins Deutsche so wunderbar zu meistern. Kein Plan wie man sich einem solchen Text zu zweit annimmt, die beiden wissen aber wie und ich kann mich nur verneigen.

Icherzählend, klug beobachtend, sein wacher Verstand verwirrt beständig sein mitfühlendes Herz. Darf ich vorstellen: Das ist Paul Hansen. Vater Däne, Pastor. Mutter Französin, Kinobetreiberin, die ihren Künftigen auf einer Pilgerfahrt zur versandeten Kirche von Skagen kennenlernt, ziehen in den 1960ziger Jahren ihren Sohn groß. Den sie Paul Christian Frederik Hansen nennen und der 1955 geboren wurde. Er ist es, der hier erzählt. Von sich, von Opfern, Unfällen, Montags-Autos, Revoluzzern, Kommunisten und wanderndem Sand. Von Gefängnistagen, Stuhlgang, dem Traum von Freiheit, Reue, Vermissen und Verlust. Seine Sätze werde ich noch lange im Kopf haben, daran denken, wie das mit den Geistesgirlanden (was für ein Wort!) war, an die Marotten seines Zellenkumpans, an den Bauch dieses Gefängnisses, an einen Januar mit über – 40 Grad, der nicht enden will.

Aber treten wir noch einmal einen Schritt zurück. Wie kam Paul von Dänemark über Frankreich nach Kanada um hier im Gefängnis zu landen? Pauls Mutter erbte ein Kino, ihre Eltern verunfallten tragisch. Mit dem Auto. Ambitioniert betreibt sie es weiter. Leidenschaft entwickelt sie allerdings auch für Marx und Lenin, was permanent Streit mit ihrem Mann dem Pastor bedeutet. Sie anecken lässt. Zumal sie des Abends Diskussionsrunden organisiert, die Bauanleitung von Molotow-Cocktails zum Besten gibt und sich ausgerechnet über den Schatten der nahen Kirche moniert. In dem man nicht frei denken könne. Paul ist da dreizehn und ab und zu darf er abends mit. Dann bestaunt er die Sprache, die man hier spricht, die ihm neu ist, die Wut die in ihr steckt, ihr Feuer. Seine Mutter, die Redner, die sie im Mund führen und die brennen für ihren Standpunkt. Keinen Zweifel an dem lassen was sie wollen.

Wie ein Gast auf der Durchreise, so Dubois, lässt Pauls Mutter den Vater schließlich gehen. Nach einem Streit, einer Scheidung, nach Kanada, in die Provinz Quebec auswandern. Ihren Mann, den der Gemeinderat suspendiert hatte, nachdem sie beschloss in ihrem Kino einen pornografischen Skandalfilm zu zeigen.

Diese Trennung bedeutete gleichzeitig das Ende der Familie Hansen, sie verschwand Mitte der Siebziger aus den Telefonbüchern in Frankreich und Pastor Hansen predigte fortan in einer kanadischen Minenstadt, in der ausgerechnet Asbest gefördert wurde.

Und Paul? Er landete 1976 in Kanada mit einem Reiseseesack und ein wenig Geld. Noch ohne Plan und am Ende wird er 26 Jahre lang der Verwalter des Excelsior sein. Wo er Beruf und seine Berufung findet als Concierge, Beichtvater, Gärtner, Klempner und Elektriker, wo er so viel mehr als der Hausmeister, einer großen Wohnanlage ist, die 68 Wohneigentümer beherbergt. 

Ein Eissturm legt das Land lahm, fällt Strommasten und das Unheil, das seit Monaten durch die Flure seiner Wohnanlage schleicht, klopft dann letztlich auch bei Paul an. Wir wissen bereits wo es ihn hinführen wird, ins Gefängnis, wo er abgenabelt von seinem alten Leben mit den Geistern Verstorberner wird leben müssen. 

In Rückblenden, aber immer auch mit wachem Blick für das Hier und Jetzt erzählt Dubois. Aufmerksam, ihm entgeht nichts und so viele seiner Sätze sind einfach nur zum Niederknien. Er schmiedet sie, bis sie glänzen und ich könnte mich mitten in sie hinein werfen.

Save the best for last. Ganz bis zum Schluss lässt Dubois uns Leser*innen warten, bis er uns erzählt was seinen Protagonisten letztlich hinter Gitter gebracht hat. Jetzt erst verstehe ich ihn, mag ihn noch mehr und was freue ich mich, das mich diese Geschichte gefunden hat. Deshalb halte ich sie hoch und an’s Licht. Nein, sie gehört nicht mehr zu den Neuerscheinungen, aber: Bitte gerne lesen oder hören! Ihr alle. Unbedingt!

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