Opus77 (Alexis Ragougneau)

Musik lässt Bilder in uns entstehen. Manchmal fühlt man sie mehr als man sie sieht. Spürt ein Flattern tief im Bauch, wenn eine Basstrommel schlägt, lässt sich von einer Violine zu Tränen rühren. Ein Orchester vermag einen ganzen Teppich an Klängen für uns zu erschaffen. Was mühelos klingt und leicht, ist harte Arbeit und Training, und eine ganze Maschinerie setzt sich in Gang, denn meist ist ein Konzertbetrieb zu führen. Was geht da vor hinter den Vorhängen? Den professionel aufgesetzten Fassaden? Nach einer Veranstaltung? Davor? Wenn das Lampenfieber um sich greift. Was macht es mit den Menschen, die gefeierte Stars sind, wenn der Applaus verklingt? Wenn sie abtreten und hinter den Kulissen verschwinden?

Opus77 von Alexis Ragougneau

Ein Hänger. Drei Monate vor seinem Tod vergißt er plötzlich die Noten, auf offener Bühne, vor vollen Rängen. Er dirigierte auch heute, wie immer, mit zugeschlagener Partitur. Sein Orchester strandete in seinem Moment der Schwäche aber nicht etwa führungslos im Meer der Klänge, sondern es überspielte sie. Beinahe liebevoll, mit Respekt für den alternden Maestro, und niemand im Saal ahnte auch nur etwas. Aber er wusste es. Und er wußte, dass sein Orchester es wußte. Nach dem Konzert brach er zusammen und ein anschließender Hirnscan brachte die Diagnose: Es würde keine weiteren Konzerte mehr mit ihm geben …

Sie spielte tatsächlich Schostakowitsch zu seiner Beerdigung. Die versammelte Trauergemeinde spekulierte erst innerlich, hernach laut, und interpretierte jede Menge hinein in ihre Musikauswahl. Ein gefeierter Dirigent ist tot und seine Tochter, die vom Erfolg verwöhnte Konzertpianistin Ariane Claessens, gibt ihm heute, mit jedem ihrer Tastenschläge, das letzte Geleit.
Den Opus77 hat sie ausgewählt und seine epische Länge, sein Drängen, seine Dramatik, gibt allen, während sie spielt, die Gelegenheit auf das Leben ihres Vaters zurückzublicken. Ihr Blick indes wandert während des Spiels nach innen und uns Leser:innen nimmt mit sie auf diesem Weg. Auf ihrem Klangteppich erzählt sie uns die Geschichte der Claessens, die Geschichte ihrer Familie und wie es war im Schatten dieses Vaters aufzuwachsen. Wie es war zur Musik zu finden. Für sie und ihren Bruder. 

“Das mechanische Klimpern brach ab, und das Orchester fiel auseinander. Viertel- und halbe Noten pladderten auf die Bühne wie ein Platzregen. Schließlich kamen die Instrumente auf einem fetten Schenkel oder in einer feuchten Achselhöhle zur Ruhe.

Textzitat Alexis Ragougneau Opus77

Ariane ist vier Jahre alt und ihr Bruder David sechs, als ihre Mutter die Sopranistin Yaël, aufgedonnert wie ein Weihnachtsbaum, und laut singend, eine Orchesterprobe des Vaters in der Victora Hall stürmt, ihr Bruder sich aus einer Umarmung losreisst, SEIN Instrument wählt und quietschend zu spielen beginnt. Er würde Geiger werden und das wurde er dann auch. Einer dem alle Farbe aus dem Gesicht wich wenn er spielte. Weil, so sagte er das Blut, sein Blut, beim Spiel durch seine Geige fließe …

Sie fährt einen alten Porsche 911, und weiß auch sonst was sie kann. Ihre Berühmtheit trägt sie wie einen Panzer, und manchmal hätte ich sie schon ganz gerne mal am Kragen gepackt und geschüttelt, diese Ariane Claessens. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren, jetsettet sie umjubelt durch die Konzertsäle dieser Welt.

Fotoshooting mit Panther. Grüne Augen und Eskalation. Auf der Klaviatur der Erzähltöne weiß Alexis Ragougneau sehr gut zu spielen. Seine Romanheldin siezt uns zwar, spricht uns Leser:innen, aber häufig auch direkt an, macht uns zu Komplizen ihrer Vergangenheitsbewertung und die hat es in sich.

Narzissmus und Ehrgeiz. Talent, reichlich Rampenlicht und ein Absturz. Alle Farben, alle Gefühle, alle Töne, alle Noten erkennen wir in ihr und ihrem Bruder. Jede Menge Zirkus auch und die Manege, in der die Akteuere der klassischen Musik zu Hause sind, wird perfekt ausgeleucht. Bis in die abseitigen Ecken hinein. Denn Schatten hat es auch hier. Jenseits des Erfolges und der Lichtkegel, im Orchestergraben und auch das Dirigentenpult wirft ihn. Besonders das Dirigentenpult. Manchmal fällt er dann auf die erste Geige, und wenn die der eigene Sohn spielt, dann …

Machtmenschen, Orchester-Strukturen- und Hierarchien, Blut ist dicker als Wasser. Ein Strahlen erlischt. Vielleicht. Geschwister, die nicht nur über die Musik miteinander verbunden sind, die einen Vater verinnerlicht haben der ihnen Förderer und Diktator zugleich gewesen zu sein scheint, vermissen sich. Einer von beiden landet gar in einem Bunker. 

Mir offenbart sich ein Gefühlsreigen der mich anpackt. Sprachlich ausgezeichnet, darf man eine Figurenzeichnung erwarten, die den, die geneigte(n) Leser:in, durchaus auch hassen lässt. Genau diese Mehrdimensionalität mochte ich besonders und sie ist, finde ich, selten genug zwischen zwei Buchdeckeln zu entdecken. Wenn Autor und Übersetzerin so meisterlich mit ihr arbeiten, kann ich mich nur verneigen:

Alexis Ragougneau, geboren 1973, Schauspieler, Regisseur und Dramatiker, veröffentlichte 2014 sein Romandebüt. Für Opus77 wurde er zweifach preisausgezeichnet mit dem Prix Libraires en Seine und dem Prix de l’Union Interalliée. Er schaffte es auch auf die Shortlist des Prix Femina und des Prix Goncourt. Seit dem 15.02.2022 ist sein Opus in deutscher Übersetzung erhältlich, transferiert hat ihn Brigitte Große, die Formulierungen die sie wählt fand ich ganz und gar außerordentlich. Weich und tragend und sanft.

Ebenbürtig umfasst ein hochglänzender Schutzumschlag den blutroten Bucheinband dieses Opus77, als habe man ihn in Klavierlack getaucht und auch im Inneren hält die Geschichte was ihr Äußeres verspricht. Fragmentarisch, dramaturgisch sehr geschickt, leidenschaftlich und mit Kapitelenden wie Paukenschläge orchestriert Ragougneau seinen Text.

Töne steigen aus den Seiten, sie klingen zwischen den Zeilen, und auch eine zarte Lakonie schwingt bisweilen mit wenn er Ariane erzählen lässt. Es fällt leichter auszuhalten was geschieht, nimmt Frau es mit Humor, könnte das Motto der erzählenden Dirigenten-Tochter sein, wenn da nicht die Wehmut wäre. Immer wieder überlagern auch Misstöne, das was nach außen hin für die Fans nach heiler Welt aussieht.

“Meine Angst nenne ich den schwarzen Hund. Er kommt immer am Morgen vor dem Konzert. Beim Aufwachen. Ich schlage die Augen auf, und da sitzt er, am Fußende meines Bettes, und starrt mich an, aufmerksam, neugierig, mit gespitzten Ohren.”

Textzitat Alexis Ragougneau Opus77

Lampenfieber und Zweifel. Rituale vor dem Auftritt und davon an den Rand des Sprungbrett zu treten. Jedes Mal schwindelnd und die Überwindung überwindend.

Beim ersten Selbstmordversuch der Mutter sind die Geschwister fünf und sieben Jahre alt. Es wird noch weitere geben, immer gleich, immer sind es Schlaftabletten und von den beiden Abschiedsbriefen an ihre Kinder wird immer nur einer geöffnet werden …

Eine Fassade aus Erfolg, die Fassade einer perfekten Familie, nebst zweier Wunderkinder, bekommt Risse. Immer mehr öffnet sich Ariane, die Erzählerin der Geschichte, ihren Leser:innen. Ich beginne zu verstehen und ich fühle mit ihr. Es schmerzt. Dieser Wandel und der Wechsel vom Schein zum Sein, vom Werden zum Finden, erfolgt fließend, schleichend und mich fröstelt. Das macht er großartig der Alexis Ragougneau. Er fängt die Gefühle seiner Protagonisten so ein als wären es seine eigenen.

Es steckt viel drin in dieser wechselvollen Geschichte. Vor allem zwischen den Sätzen und Absätzen. Mehr als ihr Seitenumfang von außen vermuten lässt und mir war sie eine mehr als willkommene Abwechslung abseits gewohnter Romanschauplätze, mit Figuren die für mich aus ihrer Lebenswelt heraus und auf die Bühne treten.

Noch nie habe ich über Musik so gelesen. Ragougneau schafft es Klang aus Wörtern entstehen zu lassen und dabei gleichzeitig bewegte Bilder Musizierender zu erzeugen, die so mitreißend sind, dass ich vom Stuhl springe und stehend applaudiere.

Die Verletzlichkeit und Verletzungen, die er seinen Figuren zuschreibt wirken wie fest verwoben mit diesen musikalischen Bildern.

Ein Musikstück. Ein alles entscheidender Auftritt. Auf ihn steuert alles zu. Atemlos folge ich einer Geige. Einem Vater. Seinem Sohn. Der letzte Ton. Die Stille danach ist ohrenbetäubend …

“Aus all den Jahren habe ich nur eine einzige Lehre gezogen, und eines Tages werde ich mich wohl dafür entscheiden müssen, sie anzuwenden: Der wahre Reichtum, der wahre Erfolg besteht in der Kraft, Ruhe zu geben.”

Textzitat Alexis Ragougneau Opus77

Mein Dank geht an den Unionsverlag für das Besprechungsexemplar.

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    24. Februar 2022

    Das freut mich Dorothee, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass dieser Titel für Dich paßt. Liebe Grüße an die See von Petra

  2. Anonymous
    24. Februar 2022

    Hallo Petra!
    Und wieder ist es Dir gelungen, mich neugierig zu machen!
    Dieser Roman kommt schon mal in mein “Wunschbuch”!
    Liebe Grüße aus Kiel von Dorothee

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