Richard ist ihr kleiner Bruder. Acht und sechs Jahre alt waren Monika und Gretel als er zur Welt kam und zu Vaters Liebling wurde. Bis in den Tod ist er das geblieben, meint Monika Helfer, was verständnisvoll klingt, nicht neiderfüllt, wenn sie das sagt und ihn “der kleine König” heißt und das der Vati bei der Spitznamenvergabe an den Richard Löwenherz gedacht habe. An den Mann, der von einem getreuen Sänger vor dem Ende seiner Tage noch rechtzeitig aus einem Verlies gerettet worden war, und retten hat man diesen Richard, ihren Bruder, auch müssen …
Die Rachitis, die englische Krankheit macht ihn krank als Kind und beschert dem erwachsenen Richard einen schwankenden, ungelenken Gang, den er zu einem unverwechselbar lässigen macht. Er ist ein Hundefreund, wird wegen einer gefälschten Entschuldigung von der Schule verwiesen, ist wagemutig und Nichtschwimmer.
Als letzterer gerät er in Not. In Seenot, als er in einer rostigen Viehtränke paddelnd über Bord geht und abzusaufen droht. Er wird gerettet von einer Hochschwangeren. Eine mehr als schicksalhafte Begegnung ist das, denn diese Kitti, so ihr Name, überlässt ihm, damit er sich erkenntlich zeige, ihre kleine Tochter Putzi, die vielleicht Rosi heißt, weil die hat keinen Papa. Eine Zeit lang soll das dauern, bis zu ihrer erneuten Niederkunft. Als er und Putzi sich arg aneinander gewöhnt haben, nimmt sie sie ihm wieder weg. Kitti kommt und geht, eine stabile Beziehung scheint unmöglich. Sie lässt Putzi wieder bei ihm und dann spricht den Richard die Tanja an, Wirtschaftsanwältin, und schon von Beruf her nicht nur stabil, sondern knallhart im Job wie die Kollegen sagen. Sie verliebt sich Hals über Kopf in den Schmähtandler und Luftikus und beide heiraten. Es scheint mir, als fänd’ aber nur sie in ihm ihr Glück, nicht umgekehrt. Denn Richard behält seine Wohnung und es dauert auch nicht lange da passiert für ihn das undenkbare, er ist fünfundzwanzig als er verliert was er liebt …
“Leere ist wo nichts ist. Leere ist wo einmal etwas war.”
Textzitat Monika Helfer Löwenherz
Mein Eindruck ist, das Monika Helfer beim Schreiben ihren Bruder selbst Stück für Stück besser kennenlernt, sie wirkt streng mit ihm und mit ihrem Blick auf ihn schon auch. Im Gespräch mit ihrem Mann, Michael Köhlmeier, mit dem sie immer wieder ihre Erinnerungen an Richard abgleicht, tastet sie sich ganz behutsam vor und gewinnt ein neues Bild von ihm.
Sich in keiner Bindung wirklich aufgehoben fühlend, nimmt sich Richard Helfer mit dreißig Jahren das Leben. Wir erfahren davon schon bei den ersten Sätzen der Geschichte, Monika Helfer verrät, dass es nicht gut ausgeht mit ihrem Bruder, der so mit dem Leben gehadert habe. Alle Karten liegen also bereits zu Beginn aufgedeckt auf dem Tisch, warum klebt man dann trotzdem an diesem Text wie unter einem Bann? Ich für meinen Teil, weil sie ihrem Bruder so unglaublich nah kommt, seine Verletztlichkeit zwischen ihrem gestrengen Blick hält, sie liebevoll betrachtet und letztlich schützt. Wie sie es immer getan hat, als seine große Schwester …
Auch diesmal lausche ihr andächtig, lasse mir ihre Geschichte von ihr selbst in der Hörbuch-Fassung vorlesen. Es geht nicht anders, denn ihre Stimme ist für mich untrennbar mit ihren Texten verbunden.
Monika Helfer, österreichische Autorin, geboren am 18.Oktober 1947, seit 1981 verheiratet mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, tut dies wie gewohnt mit ihrer sanften, leicht brüchigen Stimme und mit der ihr ganz eigenen Sprachmelodie. Die knapp fünf Stunden Hörzeit der ungekürzten Lesung verstreichen für mich wie im Flug. Niemand könnte ihre Geschichten besser vortragen als sie. Sie ist und bleibt authentisch von der ersten bis zur letzten Silbe und ich liebe es einfach ihr zuzuhören.
Sie erzählt mir diesmal von einem Ausflug in die Stadt mit der Tante, von glänzenden schicken Schuhen, vom Biss in eine Banane, einem Erstkontakt mit dieser exotischen Frucht.
Erzählt von Richard, dessen Kopf ein Ziel hatte, aber nur manchmal, der ein naiver Maler gewesen ist, im Beruf Schriftsetzer. Von seinen Bildern, die nur verschenklich, nicht verkäuflich gewesen seien. Von Hippies und Patchoulidunst, Glückskindern und Vernünftigen.
Von einem Schuß im Wald, von einem Hund, der ein Freund ist, von einem geschenkten Kind. Von einem Mann, der so wenig gerne gelebt hat, der gerne möglichst viele Menschen auf einem einzigen Bild untergebracht hat. Der immer eine Geschichte im Kopf gehabt hat und der sein Erleben, so wie seine Erinnerungen, am liebsten zu einer Geschichte gemacht hat. Die er anderen dann gern für wahr verkaufte, und sie glaubten ihm. Immer. Ein Lügenbaron sei er gewesen. Ein Münchhausen vielleicht, dieser Richard mit Kosenamen Löwenherz …
Sie springt mit ihren Erzählfragmenten aus Richards und ihrem Leben heftig in der Zeit hin und her. Stilistisch verstärkt das die Biografie dieses kurzen, unsteten, rastlosen Lebens ungemein.
Immer wieder gleicht Helfer auch ihre Erinnerungen an ihren Bruder mit ihrem Mann Michael ab, der ihn als Erwachsener gekannt und der ihm ein guter Freund gewesen war. Der ihn vielleicht sogar besser gekannt hat als sie, sagt sie. Fotos und was ihr Ehemann zu berichten weiß versetzen sie dabei nicht nur einmal in Erstaunen. So recherchiert sie z.B. in einem Zeitungsarchiv, ob sie dieser einen Ausreißergeschichte Glauben schenken kann, von der ihr Michael da erzählt.
Ich mag Monika Helfer und ihre Familiengeschichten allesamt. Von den dreien, die ich mir bis jetzt von ihr abgelauscht habe, ist mir die von ihrem Vati zwar die Liebste geblieben aber Löwenherz hat nochmal einen ganz einen eigenen Schmerz und hat mich sehr berührt. Sie rückt etwas ab von der romanhaften Form der anderen beiden Geschichten, Helfer behält aber ihre charmante, warmherzige Erzählart, die einfach wunderbar ist. Diese dritte Erählung im Bunde verkomplettiert so einerseits und lässt mich andererseits hoffen, dass noch weitere folgen mögen. Schließlich ist “die Baggage” ja eine Großfamilie, nicht? Und es hat ja offenbar recht viele besondere Charaktere in diesem Clan.
Monika Helfer gibt in einem Interview an, sie sei seltsam unruhig gewesen nachdem die ersten beiden Teilen ihrer Familiensaga veröffentlicht waren. Es muss wohl so gewesen sein, dass diese noch ungeschriebene Geschichte in ihr gespukt hat. Wie schön dass sie sich für sie die Zeit genommen hat und das sie jetzt mit uns teilt, so offen und unverstellt, und dieses eine Wort am Schluß, nehme ich mir mit, mit ihm verabschiedet sie im letzten Kapitel ihren Bruder, nimmt es für ihn: Schlafesruh ..
Mein Dank geht an Der Hörverlag für dieses Besprechungsexemplar.
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