Oben Erde, unten Himmel (Milena Michiko Flašar)

Das eigene Leben auf den Kopf stellen. Seinen Blickwinkel verändern. War meine erste Assoziation als ich ich diesen Romantitel las. Dabei geht es um sehr viel mehr, um eine gesellschaftliche Veränderung, die immer rascher voranschreitet. Während Städte wachsen, wächst die Anonymität mit. Oder sogar über sie hinaus. Es hat zunehmend Alleinlebende. Im günstigsten Fall ersetzen Freunde die fehlende Familie. Manchmal eben auch nicht.

Wie gut kennen wir unsere Nachbarn? Kennen wir sie überhaupt? Nehmen wir Anteil an dem was um uns herum geschieht?

Leichenfunde, die der Zufall aufdeckt. In Wohnungen, die lange von niemandem mehr betreten worden sind, beschäftigen die Hauptfigur dieses Romans. Suzu Takada, gehört zu einem Team das auf den Plan tritt, wenn ein Leben so geendet hat. Allein. Hinter verschlossenen Türen. In meinem letzten Urlaub war ich auf einem alten Friedhof unterwegs, stieß auf einen Grabstein, auf die bereits die Namen einer kompletten Familie eingraviert waren, der zuunterst stehende Name war versehen mit seinem Geburts- aber noch ohne Todesdatum. War derjenige allein geblieben? Hatte schon vorgesorgt, weil niemand mehr da sein würde, wenn er geht …?

Oben Erde, unten Himmel von Milena Michiko Flašar

Die unnahbare, die Außenseiterin, war sie für ihre Kolleginnen. Sie hatte schon immer gut mit sich allein sein können, kam nicht gerne auf persönliches zu sprechen.

Genügsam lebt sie zusammen mit ihrem Hamster, arbeitet als Kellnerin, nachdem sie vom Land in die Stadt gezogen, ihr Studium hingeschmissen hat.

Dünne Wände trennen sie von ihren Nachbarn. Sie verstärken ihre Einsamkeit, weil sie hören kann, dass sie es nicht sind. Allein.

Über eine Dating Website gelingt ihr ein Kontakt, wie ein zartes Pflänzchen entwickelt sich eine Beziehung, die jedoch von Seiten ihres frischgebackenen Partners als bald schon und ohne Vorankündigung beendet wird. Sie verliert ihren Job, weil ihr Chef meint, ihr fehle die für das Servieren erforderliche Empathie. Obwohl ihr Lächeln sei 1a. Sie solle lieber was mit ohne Menschen machen, als Reinigungskraft arbeiten zum Beispiel. Das könne sie gut, das macht sie dann auch und landet zur Probe bei einem Putztrupp der besonderen Art und bei Herrn Sakai. Der wird immer dann gerufen, wenn eine Wohnung nach einem Leichenfund gereinigt werden muss.

Herr Ono ist tot, unbemerkt verstorben, in seiner Wohnung liegen geblieben für eine viel zu lange Zeit. Als hätte er es geahnt, hatte er bereits drei Jahre zuvor dafür gesorgt, dass seine Wohnung einmal von professionellen Händen ausgeräumt werden würde und hatte das Spezialteam von Herrn Sakai damit beauftragt. Er wird zu Suzus “erstem Fall”.

Wie lernt man einen derartigen Geruch auszuhalten? Will man das überhaupt? Als die Neue, trifft Suzu nicht nur auf die unschönen Spuren, die der Tod hinterlässt, sondern auf die eines jeweils gelebten Lebens …

Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St.Pölten, veröffentlichte mit Herr Katō spielt Familie ihren ersten Roman, auf den ich aufmerksam wurde und den ich, ich gestehe, noch immer nicht gelesen haben. Um ehrlich zu sein hat sich ihr aktueller Roman seines Titels wegen frech vorgedrängelt.

Schau dich um, das ist dein Leben“, diesen Gedanken legt die japanisch-österreichische Autorin Flašar ihrer Suzu in den Kopf, nachdem ihr Ex-Chef, der nur allzu gern nach dem ein oder anderen Hintern greift, ihr verbal heftig in den selbigen getreten hat.

Wer bin ich? Das was andere in mir sehen? Zu wem werde ich, wenn ich nur danach handele? Was wird, wenn ich alles Feedback in den Wind schlage? Suzu trifft eine Entscheidung. Eine die Folgen hat, die alles verändert …

Eva Meckbach, geboren 1981, deutsche Schauspielerin und Hörbuchsprecherin, wurde 2019 mit dem Deutschen Hörbuchpreis als beste Interpretin für ihre Lesung von Deutsches Haus von Annette Hess ausgezeichnet. Sehr empatisch verleiht sie in Oben Erde, unten Himmel der Hauptfigur nicht nur Kontur, sie lässt sie rund acht Stunden lang aus den Silben herauswachsen. Es ist mir, als würde ich sie kennen, so nah kommt sie mir. Das Team Flašar/ Meckbach vergißt bleibt leicht lakonisch im Ton, nimmt den Situationen damit die dramatische Spitze. Die sich leise anschleichende Nachdenklichkeit, die die Autorin erzeugt, ist bei Meckbach in den besten Händen. Besonders das mochte ich hier.

Wie wollen wir wohnen und was bedeutet es für uns? Ein Gefühl von zu Hause macht sich nicht nur an vier Wänden fest. Sehr modern und gegenwärtig sind die Fragen die hier zwischenzeilig aufgeworfen werden. In jedem Lebensabschnitt den wir durchleben ändern sich die Bedürfnisse und Anforderungen an den Wohnraum der uns umschließt. Eines aber bleibt immer gleich, wir fürchten die Einsamkeit.

Der Trennlinie zwischen Alleinsein und dem Gefühl der Einsamkeit nähert sich Milena Michiko Flašar an. Manchmal flappsig von der Tonart her, manchmal wehmütig lässt sie ihre Protagonistin auf sich und auf das schauen, wie es ihr damit geht. Alleinlebend, die Eltern und ihre Familie nicht in mehr in Reichweite.

Diese Geschichte könnte überall spielen, ist aber in Japan verortet. Wir hören von gesichtslosen Wohnfluren, uniformen Gebäuden, von Türen dicht an dicht. Von Fremdheit und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Von Gedanken an Großmütter, unvergleichlicher Misosuppe, von dem, was viel zu lange her ist.

Respekt schulden wir denjenigen, deren Leben wir ungefragt nach ihrem Ableben betreten. Das lernt Suzu von ihrem Chef, der ist da streng mit seinen Mitarbeitenden. Der eine sehr eigenwillige Sicht auf die Dinge hat, aber eine, die viel alltagsphilisophisches enthält. Viel Lebensklugheit.

In Zeiten der Dürre Tränen vergießen
Im kalten Sommer ratlos umhergehen
Von allen Dummkopf geheißen werden
Nicht gelobt werden
Keinen Kummer verursachen
So ein Mensch möchte ich werden

Textztitat Milena Michiko Flašar

Die Zeilen eines Gedichtes hängen zwischen ihnen in der Luft. Gefühlt alle hören Suzus biologische Uhr ticken, derweil ihr Chef Herr Sakai unverdrossen am Wir-Gefühl seines Teams arbeitet.

Für alle, die es gerne warmherzig und gut lesbar mögen gebe ich eine Leseempfehlung. Flašar formuliert pointiert und zugänglich, hat lebenskluges im Gepäck, kontrastierend dazu spart sie nicht mit grausigen Details, wenn sie ihre Szenerien rund um die Fundleichen zeichnet. Da war sie für mich, was die Beschreibung von Leichenflüssigkeiten, Geruch und Maden anbelangt sehr präzise.

Wer lieber hören will, ist mit der Hörbuch-Fassung dank einer wunderbaren Eva Meckbach auf der sicheren Seite. Ich bedanke mich bei speak low für dieses Besprechungsexemplar, dort ist der Titel als Download-Version erschienen.

Was bleibt wenn jemand geht? Schritte im Raum, ein eigener Geruch, Eigenarten die gewirkt haben. In anderen. Schön, wenn man Spuren in Herzen hinterlässt, die die Trauer überdauern. Die sich erinnernde lächeln lassen.

Wènn der Himmel unten wäre und die Erde oben, würden wir auf Wolken gehen“. Meint Suzu. Nur so ist das eben nicht. 

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