Jahrbuch der Lyrik 2023

Warum lest Ihr Gedichte? Oder warum lest ihr auch keine? Hat man Euch in der Schule gewungen welche auswendig zu lernen? Musstet Ihr sie dann interpretieren? Verse messen? Klingt nach Mühe und Arbeit. Nach wenig Vergnügen.

Soll es sich reimen, wenn ihr welche lest? Oder darf es auch mal unstimmig aufhören am Ende einer Zeile? Mit Fragezeichen, die Euch ratlos aus dem Textschnippsel entlassen.

Warum lese ich Gedichte? Seit einigen Jahren wieder, mit großer Freude und so oft erstaunt darüber, wie man sich in Versen stilistisch und sprachlich komprimiert derart austoben kann. Es tut mir einfach gut schöne Sätze löffelweise zu mir zu nehmen, mir Pausen beim Lesen zu gönnen, dem Nachhall zu lauschen, sie auf der Zunge zergehen, im Kopf hin und herwandern, im Herzen herumspuken zu lassen. Also alles können, nichts müssen. Eines aber Muss doch. Nämlich dieses Jahrbuch wieder genießen. Damit angefangen darin zu lesen, habe ich als Spätzünder erst 2021, quasi im Herzen der Pandemie. 2022 habe ich es ausgelassen, habe keine Ahnung mehr wieso und bin froh, mich in den neuen Band aufgemacht zu haben. Seit 2017 erscheint er alljährlich bei Schöffling & Co., an dieser Stelle bedanke ich mich herzlich für das Besprechungsexemplar. In den Jahren 1979 -2016 sorgten die Deutsche Verlags-Anstalt, Claassen, Luchterhand, C.H. Beck und Fischer alle zwei Jahre für einen neuen Band. Grund genug die aktuelle Ausgabe in dieser Woche zu zeigen, stand am 21. März der Welttag der Poesie im Kalender.

Der Literaturwissenschaftler Matthias Kniep, ständiger Herausgeber seit 2022 und Nachfolger von Christoph Buchwald in dieser Funktion, hat auch in diesem Jahr gemeinsam mit einer Mitherausgeberin, an seiner Seite die Dichterin Sonja vom Brocke, aus tausenden Gedichten des Poesieraums Deutschlands, Österreichs und der Schweiz eine Anthologie zusammengestellt. Alles wie immer und auch alles anders. Denn für die Sammlung 2023 war den beiden Auswählenden Kniep und vom Brocke nicht bekannt, von dem das jeweils eingesandte Gedicht stammt.

Ist man, wenn man den Autor, die Autorin eines Gedichtes nicht kennt frei von Beeinflußung und Erwartung? Wie führt man, wenn man eine Auswahl so gründet, thematisch zusammen was sich verträgt? Was kann wie eine Klammer bilden? Würden die kundigen Herausgeber am Stil, am Ton vielleicht doch den Urheber der Zeilen erkennen und anonym geht gar nicht wirklich?

Wir die Leser:innen sollen wie die Herausgeber vom Vers zum Autor, zur Autorin finden. Sicherstellt das, ein ausführliches Inhalts-, sowie ein Autor:innenverzeichnis am Ende der Sammlung. Die einzelnen Gedichte sind nur noch mit ihrem Titel überschrieben, der so gleichzeitig als Stichwort für die Autor:innensuche hergenommen werden kann.

Anfangs war ich skeptisch was diese Idee anbelangt, aber tatsächlich fand ich es schon kurze Zeit später, nachdem ich mich lesend und stöbernd zwischen den Seiten aufgehalten hatte spannend. Spannend weil ich unerwartet Namen unter den Verfasser:innen fand, die auch ich kannte, aber nicht wiedererkannt hatte. Unter ihnen Ulrike Draesner, Nora Gomringer und Miriam Wittig. Viele Frauennamen habe ich entdeckt, auch das eine Auswirkung des anonymisierten Auswahlverfahrens? Wer will das sagen?

Genug der Vorrede, habt Ihr Lust, wollen wie gemeinsam einen Blick auf meine Lieblinge aus dem Jahrbuch der Lyrik 2023 werfen? Dann los.

Starten wir heiter, auch wenn Heiteres im Jahrbuch eher rar ist, aber auch zur finden. Dann häufig in den Zwischen- und den Untertönen. Mein Favorit kommt aus der Schweiz. Vielleicht meint sie es aber auch ganz anders, will uns nachdenklich machen, es gelingt ihr zwischenzeilig, was ich ganz wunderbar finde. So viele Deutungsmöglichkeiten zu haben. Es geht um die Hasendichte und Anna Breitenbach bringt es so auf den Punkt:

Der Schweizer Feldhase hat
stellenweise, kantonal einen
Rekord-Tiefstand von 1,5 Hasen
pro Quadratkilometer erreicht,
lese ich. Das ist dramatisch,
denn bereits eine Dichte von
2 bis 6 Hasen gilt unter Experten
als kritisch, heißt es in der 
Mitteilung.
In der ganzen Schweiz sei der
Bestand auf durchschnittlich
2,7 Hasen pro Quadratkilometer
abgesackt. Da kann man schon
von Hasenlichte sprechen,
denke ich, und dass die Schweiz,
wenn sie so weitermacht, auf dem 
besten Weg zum Einzelhasen ist.

Einen ähnlichen Ton findet man in dem Gedicht Eisenjunge, mit seinen drei Variationen, die ich alle sehr mochte, es geht darin um Stockholms kleinstes Denkmal, das Dorothee Arndt so betrachtet und dabei auf Groß- und Kleinschreibung pfeift, ich zitiere die dritte der möglichen Betrachtungen:

ich spüre, wie der Verlust schon anklopft
vor der trennung, mir der rost mein eisen rauben will,
wie er mir folgt auf glitzernden spitzen, längst bin ich 
fort und du bleibst eisern in deinem weichen mondhof
zurück, ohne eine blasse absicht von der zeit vor dem ziel

Viele Verse wirken in diesem Jahr wehmütig, teils schwermütig auf mich. Krieg und Tod steht über so einigen Zeilen. Es scheint als sei die Leichtigkeit auch den Dichter:innen in diesen Zeiten verloren gegangen. So ist dieses Jahrbuch für mich auch von Ton und Stimmung her ein Spiegel unserer Gegenwart und zeigt einmal mehr was Dichtung vermag. Nämlich wie kaum eine andere Textform, Grundstimmungen und Gefühl zu transportieren. Dichter:innen erheben ihre Stimmen und verleihen dem Ausdruck was uns alle beschäftigt. In vielem finden sich so auch unsere Gedanken und Empfindungen wieder. Finden wir uns, ich mich wieder.

Dann etwa wenn Vergangenes wieder gegewärtig wird, wie in diesem Kommentargedicht zu einem Satz von Alexander Kluge. Wo Asmus Trautsch von Aufrüstung und Kampf schreibt, in dem er die <Zukunft peischt die Pferde der Geschichte zum Galopp, Mähnen brennen, in Kriege hasten und Geduld sich vertrösten> lässt. An anderer Stelle geht es dann um Zischen und Dösen oder ganz banal überschrieben um eine Reparatur. Auf Seite 111 ist es die Schreibmaschine von Wilfried Happel, die, meint er, vielleicht eine braucht und ich finde das, wie er darüber schreibt als Autor Ablehnung zu erfahren, schlicht zum Niederknien.

Schneegewitter, Erlenpfade und Piratenwitwen, flatternde Fledermäuse und Freundschaft. Kurzgefasstes trifft auf Verse mit Überlänge. Träume auf Wünsche, Gedichte kommen auf benachbarten Seiten gut miteinander aus. Finde ich und stutze wie die Gedanken zweier die sich fremd sind zusammenpassen. Mein Liebling ist auf Seite 124 zu finden. Überschrieben mit Wegwarte stammt dieses Gedicht von Dominik Kohl. Als Kostprobe zitiere ich Absatz zwei:

Deine eine Farbe ist nur für das türlose Licht
des Morgens, abgerissen und durchsichtiger,
flüchtig, nicht haltbar, denn meist bist
du anderswo, bist in den Wurzeln, mit
denen du gräbst in der staubtrockenen, 
verschlossenen Erde, dem unzugänglichen
Pfahl der Träume, wo du aushältst, oberirdisch 
nachlässt, aus allen Gesichtern wächst,

die übersehen wurden, Keime im Boden, 
wuchernd.

Ich stolpere über Zeilenumbrüche, betone neu, setze Sätze neu zusammen. Jetzt fühlt es sich richtig an. Was man so alles auch an Worten erfinden kann ist verblüffend! In Kamille macht das z.B. Kenah Cusanit, sie “denglicht” herrlich, biegt und beugt gleich zwei Sprachen. Ich lese ihr Gedicht mit Wonne mehrfach. Was eine Büroklammer so alles schafft, Esther Ackermann kennt sich da aus, derweil ich staune und lesend an anderer Stelle Uschi und Detlef kennenlerne.  

Ja, ihn mochte ich auch den Supermond auf Seite 130 von Norbert Hummelt und die Blindschleiche, auch von Dominik Kohl, die sich auf Seite 136 ringelt. Überhaupt sind mir die Zeilen, die die Natur einfangen, besonders nah gekommen. Wieder einmal.

Es gibt gereimtes, gezeichnetes, ja sogar ein Gedicht in Form einer Lochkarte. Genau, das geht nämlich auch. Die Poesie macht vieles möglich. Alles geht. Irgendwie. Macht Sinn für mich. Oder eben auch nicht. Mein lyrisches Herz ist satt, als ich die letzte Seite umblättere. Aber nicht für lange. Denn mein Hunger nach gewogenen Sätzen wird alsbald schon wieder knurrend in mir erwachen. Ich kenne mich ja. Schon lange. Genug.

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