Milchmann (Anna Burns)

*Rezensionsexemplar/Neuerscheinung* 

Sonntag, 23.02.2020

“Der Tag, an dem Irgendwer Irgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.”

Textzitat Anna Burns Milchmann

Nicht selten ist es der erste Satz eines Romans, der in mir den Wunsch weckt ihn lesen zu wollen, ihn lesen zu müssen. Das wäre auch hier der Fall gewesen, hätte mich nicht schon die Tatsache angezogen, dass diese Autorin 2018 mit diesem Roman den Man Booker Prize, einen der bedeutendsten Literaturpreise der Welt gewonnen hat.

Anna Burns, geboren 1962 in Belfast, aufgewachsen im katholischen Arbeiterviertel Ardoyne, ist auch die erste nordirische Schriftstellerin, die mit diesem Preis ausgezeichnet worden ist. “Die beste Man-Booker-Prize-Trägerin aller Zeiten!” So vernimmt man Presse-Stimmen, dabei kam sie nach zahlreichen Jobs erst spät, etwa mit Mitte 30 zum Schreiben. 2001 erschien ihr Debüt Bones. Sie schreibt über ihre Heimat und rückt einen Konflikt wieder in mein Bewusstsein, den ich weit weg geschoben hatte und der aktuell jetzt, durch den Brexit, wieder in aller Munde ist. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, endet Europa seit dem 01.02.2020, an der 499 Kilometer langen Grenze die Nordirland von Irland trennt. Eine neue EU-Außengrenze ist entstanden, die aber beide Seiten nicht als “feste” Grenze errichten wollen. Die sogenannte “Backstop-Regelung” im Austrittsvertrag soll deshalb zunächst, und auf unbestimmte Zeit hier Grenzkontrollen ausschließen. Zumindest solange, bis man sich auf eine andere Lösung geeinigt hat …

Im Kugelhagel verlor Anna Burns im Alter von 14 Jahren einen Freund, das war 1976 auf dem Höhepunkt der Troubles, die mehr als 3.000 Menschen das Leben kosteten. Troubles nennt man bis heute diesen Bürgerkrieg in Großbritannien. Im gleichen Jahr verlor Burns dann noch zwei weitere Freunde, beim dritten Toten habe sie bereits nichts mehr gefühlt, kann man über das von ihr Erlebte lesen. Die Namen der Opfer seien schon eine halbe Stunde nach deren Tod vergessen gewesen. Das will erst einmal verarbeitet sein, sich dann diesem Trauma schreibend so zu stellen, wie sie das tut, davor ziehe ich meinen Hut!

Ein ganzes Volk habe man emotional amputiert, so Burns, bis es 1998 endlich mit dem sogen. Karfreitagsabkommen zur Befriedung kam und die Sinn Féin wieder in der Friedensprozeß einbezogen wurden. Dies dergestalt, das Nordirland fortan als Teil des Vereinten Königreichs angesehen wurde. 2008 dann entwaffneten sich endlich die IRA und die UVF.

Milchmann von Anna Burns

Der Milchmann ist tot und er starb keines natürlichen Todes. Wer ist dieser Milchmann? Wir erfahren, er ist ein Paramilitär, deutlich älter als unsere Heldin, und er drängt sich ihr auf, ohne das es je körperlich wird. Aber sie werden gesehen und die Fantasie von Nachbarinnen und Geschwistern geht durch die Decke. Ihr Umfeld macht es ihr, dem “Paramilitär-Groupie” schwer, Gerüchte kommen in Umlauf. Die Mutter versucht ihr ins Gewissen zu reden, das sie gar nicht hat, weil – da ist ja nichts. So aber beginnt sie, unsere Heldin, ganz allmählich, während zweier Monate, so lange begleiten wir sie, ein Empfinden für das, was da um sie herum geschieht zu entwickeln.

Immer schön acht geben musste man, besonders wenn man ausging. Den eigenen Drink durfte man nie unbeobachtet lassen. Giftanschläge, willkürlich und aus dem Hinterhalt waren an der Tagesordnung und sie treffen auch hier ihre Opfer. Dies in den 1970ziger Jahren, in einer nicht benannten Stadt, wir ahnen, es muss Belfast sein. Sofort habe ich den Song von U2 Bloody Sunday im Kopf.

Insgesamt 1.800 Menschen starben durch die Hand der IRA, die sich 1919 gegründet hatte und in erster Linie Freiwillige aus den Reihen derer rekrutierte, die während des Ersten Weltkrieges der Britischen Armee den Dienst verweigert hatten. Am Bloody Sunday, dem 30. Januar 1972 erschossen britische Fallschirmjäger 13 unbewaffnete Menschen bei einer Demonstration in der nordirischen Stadt Derry. Eine von der britischen Regierung eingesetzte Kommission sprach die Soldaten zunächst von jeder Schuld frei, erst 2010 räumte Premier David Cameron ein, das die Militärs verbrecherisch gehandelt hätten. 

Nur wenige Monate danach, am 21. Juli 1972 erlebte Belfast einen Bloody Friday. Die IRA schlug zurück, an diesem Tag explodierten 22 Bomben, es wurden 9 Menschen getötet und 130 verletzt.

66 Tage Hungerstreik. Der Tod von Bobby Sands am 05. Mai 1981, er war gewählter Abgeordneter des britischen Parlamentes und Terrorist der IRA, der für den Traum eines vereinten Irlands starb, verursachte heftige Ausschreitungen in Belfast und er bewegte noch mit seiner Beerdigung die Massen. 10.000 Menschen nahmen auf dem Milltown-Friedhof von ihm Abschied. 

Wir haben diesen Konflikt als Glaubenskrieg abgeheftet, Protestanten gegen Katholiken am Rande Europas zwar und doch mitten unter uns. Dabei fußt er viel tiefer im Kampf um Territorialansprüche, die lange zurück liegen …

Burns setzt voraus, das ihre Leser auf Stand sind, was die politischen Hintergründe und dieses Bürgerkriegsgeschehen anbelangt. Ohne sich hiermit beschäftigt zu haben, ist es nur schwer nachvollziehbar was ihre Figuren und ihr Umfeld umtreibt. Sie holt nicht aus, um zu erklären, sie zeigt auf, was die Folgen im Zusammenleben waren, was das Menschsein in diesen Zeit ausgemacht hat. Dies am familiären und gesellschaftlichen Umfeld ihrer Erzählerin entlang. Das im “Gehen-Lesen” welches sich ihre Hauptfigur zu eigen gemacht hat, lässt sie anecken, eine Gemeinsamkeit übrigens, die die Autorin mit ihrer Figur teilt.

Wird dieser Roman polarisieren? Ja, wird er. Ist dieses Buch unbequem? Ja, ist es. Hab ich mit ihm gerungen? Und ob. Ihr seid es von mir gewohnt, dass ich mit eigenen Worten ein paar Splitter der Handlung nacherzähle. Das kann und will ich in diesem Fall nicht tun. Dieser Roman ist auf eine Art besonders, dass auch meine Besprechung diesmal anders sein muss, um seine Besonderheit einzufangen. 

Nichts und niemand wird hier mit seinem Namen benannt, keine Person, kein Ort. Mit Begriffen wie Schwager 1 und 3, die Erzählerin selbst ist die Mittlere Schwester, hält mich diese Autorin kühl auf Distanz. Als würden sie, Namen, Zeit und Orte keine Rolle spielen und sie taten es im Nordirland dieser Tage auch nicht. Wahllos oder selektiv wurde gemordet, gesprengt und gebombt. Sogar vor Haustieren machte man nicht halt. In einer Nacht werden alle Hunde des Wohnviertels unserer Heldin abgeschlachtet und gut sichtbar für die Anwohner aufgehäuft. Kameras klickten in Büschen und Bäumen.

Burns abstrahiert sprachlich so wie ein Maler etwa einen Menschen auch mal nur aus Strichen bestehen lässt. Aus dem Blickwinkel einer Achtzehnjährigen schreibt sie. Sie und ihr Roman haben es mir nicht leicht gemacht mich hinein zufühlen in ihre Figuren. Vielleicht ist das ihrer Anonymisierung geschuldet, die sie für mich auf die Spitze treibt. Aber genau das passt ganz ungeheuerlich gut zu Gewalt und Konflikt, und mir war gleich zu Beginn Angst und Bang bei ihrer Beschreibung des Milchmanns, und in der Erwartung, dass er übergriffig werden würde. 

Dieses unterschwellige ist es, dass bei mir ein permanentes Unbehagen ausgelöst hat. Nie konnte ich mich sicher fühlen. So wie ihre Heldin. So wie seinerzeit ein jeder in Nordirland vor Attentaten und Heckenschützen nicht sicher war. Nicht sicher sein konnte vor Bespitzelung, vor anhaltender Anfeindung. Das macht mir noch immer eine Gänsehaut und ich bin immer noch baff, dass man das mit Sprache, einem solchen Stil, erreichen kann. 

Ich lese viel, suche gerne nach dem gewissen Etwas, lese gerne auch über Orte an die ich nie gelangen werde, oder in eine Zeit, die schon hinter mir liegt. Habe mittlerweile viele unterschiedliche Stile und Erzähltöne kennengelernt. Sowas aber, wie bei Burns, ist mir zwischen zwei Buchdeckeln noch nicht begegnet. Das man mich noch so kalt erwischen und so überraschen kann, dafür bin ich Anna Burns und ihrer Übersetzerin Anna-Nina Kroll dankbar. Ich bin immer noch wie im Schock und vielleicht ist das auch gut so, weil dieser Roman so auch wie eine Mahnung wirkt, auf das wir auf keinen Fall, auch nicht während des Brexits zulassen dürfen, das der Hass, der Nordirland einst regierte wieder Nahrung erhält. Vorurteile und Herrschaftsdenken dürfen nicht mehr die Überhand gewinnen!

“Wissen war keine Garantie für Macht, Sicherheit oder ruhige Nächte, für viele bedeutete es sogar das Gegenteil von Macht, Sicherheit und ruhigen Nächten – es gab kein Ventil zum Ablassen all der Reize, die einen überfielen und überhaupt erst ausgelöst wurden, weil man auf dem Laufenden war”.

Textzitat Anna Burns Milchmann
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