Mehr als zwanzig Menschen soll sie umgebracht haben, darunter drei ihr anvertraute Kinder. Die Forensikerin Andrea Simmons will 2008 mittels einer Exhumierung klären, ob Brynhild Paulsdatter Størset alias Belles Gunness, genannt die “schwarze Witwe”, ihren eigenen Tod 1908 in La Porte, Indiana, nur vorgetäuscht hat um weiter zu morden, oder ob sie tatsächlich in einem Feuer auf ihrer Farm selbst umgekommen ist.
Aufgemerkt, hier kommt ein historischer True Crime Fall der ganz besonderen Art, eine junge literarische Stimme aus Norwegen hat versucht sich einer Frau, aus der noch gar nicht so lange vergangenen Vergangenheit anzunähern und kriecht förmlich in ihre Protaginistin hinein, um davon zu schreiben, wie sie die Welt erfährt in der sie lebt …
“Die Zeit hatte sich in ihr eingenistet, entwickelte sich mit Zehen und Fingern, Gehirn und Gedärmen. Brynhild hatte da ein Kind. Nichts könnte sie jetzt noch retten.”
Textzitat Victoria Kielland Meine Männer
Meine Männer von Victoria Kielland
Norwegen, um 1900. Ein Schlag der sie umwirft. Ein Tritt mit dem Lederstiefel in den Bauch. “Ich erwarte ein Kind”, hatte sie ihm an diesem Sommerabend, am Rande der Gästeschar gesagt und das war seine Reaktion gewesen. Jetzt lag sie im Dreck, den Mund voll mit Erde. Sie hätte es wissen müssen. Was hatte sie erwartet? Sie, die kleine Magd und er der Sohn der Herrschaft – Verständnis? Die gleiche unbändige Liebe, die sie für ihn empfand? Ein Zeitvertreib was sie für ihn gewesen. Willfährig und schweigsam.
Brynhild ist siebzehn und der Erbe eines Großbauernhofes im ländlichen Norwegen probiert sich an ihr aus, lebt sich an ihr aus. Spielt mit ihr und seiner Macht über sie. Tut ihr weh. Tritt sie in den Staub.
Das Kind, dass sie verliert, geht wie ein Riss durch sie und verändert alles. Sie flieht. Vor ihm. Der Angst. Der Scham. Nach Amerika, zu ihrer Schwester.
Victoria Kielland, geboren 1985 in Norwegen, erschrieb sich mit ihrem Roman Meine Männer gleich zwei Preisauszeichnungen, den Stig Saeterbakken Memorial Award und den Dobloug Preis. Übersetzt aus dem Norwegischen hat ganz wunderbar Elke Ranzinger, der ein wahrhaftiges Übersetzungskunstwerk gelungen ist. Sie greift den melodischen und durch und durch ungewöhnlichen Sound von Kielland so auf, dass ich gar nicht recht weiß wie ich ihn beschreiben soll. Bemerkenswert erscheint mir so abgegriffen, herausragend so beliebig. Diese Geschichte gilt als der internationale Durchbruch Kiellands und ist am 16.09.2023 im Tropen Verlag erschienen ist, ich bedanke mich herzlich für das Rezensionsexemplar.
Auf der Instagram-Seite des Tropen Verlages ist das Video eines Interviews mit Kielland abgestellt, dass die Deutsche Buchpreis Gewinnerin 2021, Antje Rávik Strubel, mit ihr geführt hat. Springt dorthin ab, wenn ihr mehr über diese neue Stimme der norwegischen Literatur erfahren wollt und hakt diesen Titel nicht als Krimi oder Thriller ab, nur weil auf dem Klappentext steht, es gehe um eine Serienmörderin. Wer in diese Geschichte startet in der Annahme, einen Spannungsroman lesen zu können, wird eher enttäuscht sein. Wer Sprache und einem sehr besonderen Erzählstil beim Lesen den Vorzug gibt wird staunen. Denn hier wird eigenwillig, mit Wucht, sinnlich und poetisch erzählt. Mir hat besonders gefallen wie es Kielland gelingt so intensiv aus ihrer Figur herauszuerzählen, nichts geschieht von außen betrachtet und wie sie das auch bis zum Ende durchhält ist beeindruckend. Sie setzt nicht auf Multiperspektiven, bleibt konsequent bei der Sicht ihrer Protagonistin, die sich vom Opfer zur Täterin wandelt. Als sie sich in Amerika einen neuen Namen gibt, heiratet und kurz darauf ihr Mann verstirbt, an Herzversagen, entsteht für mich der Eindruck, sie hatte nicht die Finger im Spiel. Keinesfalls. So muss es sich für die Angehörigen ihrer Opfer auch angefühlt haben, die ihr gegenüber ohne Argwohn waren, sie hatten keinen Grund ihr nicht zu vertrauen, bis die Zeichen sich mehrten …
Brynhild selbst betrachtet den Tod ihres ersten Mannes mit Trauer und zugleich mit seltsam kühler Distanz. Diese innere Disonanz arbeitet Victoria Kielland sehr gekonnt heraus, sie trägt diesen Roman bis zu seinem Ende. Ein Roman, der mich fasziniert und zugleich abgestoßen hat, ich wollte mich nicht dabei erwischen Sympathie für eine Mörderin zu haben, wollte nicht ihren Geisteszustand entschuldigend ins Feld zu führen und tat es doch.
Sprachlich fand ich Kiellands Text sehr herausfordernd und manchmal war es mir auch zu viel. Hier liest sich kaum ein Satz geradeaus und “normal”, die Geschichte ist nicht plotgetrieben, wie man vermuten könnte, sondern immer nach innen gewandt. Es braucht die nötige Muße für ihn. Man kommt wie Brynhild alias Belle nicht heraus aus diesem inneren Gefängnis, was belastend ist und anstrengend, den Roman aber stilistisch und inhaltlich stimmig macht.
Es war zuforderst Kiellands Sprache die mein Aufsehen erregt hat, und mein Aufhorchen, und ich begreife, es geht ihr nicht darum die Taten dieser Frau transparent zu machen, sie versucht ihr tief in die Seele zu blicken, die Perspektive ihrer Protagonistin einzunehmen. Dabei zeichnet sie das Bild einer Frau, mit der man quasi wieder Willen mit leidet.
In den ersten Kapiteln habe ich durch die wuchtigen, klangvollen, manchmal düsteren Sätze in die Vergangenheit geschaut, mich wie die Hauptfigur verloren gefühlt. Kielland zeigt uns, wie viel zu schnell aus einem Mädchen eine Frau wird. Aus einem Mädchen, das sanft war und gut, eine Mörderin. Eine Frau die von einem für andere unsichtbaren Käfig gehalten wird. Die Kämpfe in ihr macht die Autorin für uns sichtbar, mit Sätzen die so gewaltig sind, dass sie nicht nur für ihre Übersetzerin eine Herausforderung gewesen sein mussten, mich stellt sie vor die Qual der Wahl, welchen davon ich denn zitieren will. Eine unentscheidbare Entscheidung. Jeder einzelne wäre es wert. So viele treffen mich wie Faustschläge. So viele rühren mich. So viele lassen mich innehalten. Ich habe lange gelesen an diesem Roman. Mir Zeit gelassen diesen Satzkunstwerken nachzuhängen. So viel steht zwischen seinen Zeilen. So viel Schmerz. Soviel Dunkelheit.
Sommersprossen, Ewigkeitspünktchen, Muttermale. Zuviel Gerüchte, zu wenig konnte sie ihre Kinder vor ihnen beschützen. Peder war tot. Der Fleischwolf. Ein Unglück. Die Polizei schien zu zweifeln. Hatte aber keinen Beweis. Nur Gerede. Das ihr nachlief. Wie ein Straßenhund. Frostrauch in einem eiskalten Haus. Am Ende gab es nichts, nur das Ende.
Am Morgen nach dem Brand am 28. April 1908 stehen nur noch die Ruinen von Belle Gunnes Hof. Als man zu graben begann, stieß man auf die zerstückelten Leichen von unzähligen Männern, drei kleinen Menschen und auf eine Frau ohne Kopf.
Victoria Kielland folgt Belle Gunnes bis hierher, dann verliert sich ihre Spur. Bis heute ist es nicht gelungen, auch den Forensikern um Andrea Simmons nicht, die der wahren Brynhild vollständig aufzunehmen und aufzuklären was wirklich geschah. Aber wer weiß …
“Die Wirklichkeit ist wie der Tod, am Ende holt sie alle ein.”
Textzitat Victoria Kielland Meine Männer
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