New Ross, im County Wicklow.
Bald schon würde Weihnachten sein. Bill Furlong und seine Familie hatten nicht viel, aber immer noch mehr als andere. Seine Mädchen mussten nicht in der Nachbarschaft Milch aus dem Katzennapf trinken. Seine Kohlen- und Brennstoff-Handlung bescherte Ihnen zwar viel Arbeit, aber auch Schuldenfreiheit und sie hielten zusammen.
Furlong selbst war ohne Vater aufgewachsen, in seiner Geburtsurkunde stand in dieser Zeile “unbekannt”, was ihm als Bub viel Spot eingetragen hatte. Seine Mutter hatte er verloren, da war er zwölf gewesen und nur der Güte einer Frau, die seine schwangere Mutter seinerzeit aufgenommen hatte, verdankte er was aus ihm geworden war. Seine Frau würde sagen, sein weiches Herz, was sie irgendwie gar nicht einmal so positiv an ihm zu finden scheint, und ich würde meinen, seine Haltung Schwächeren gegenüber. Seine Haltung, die tolerant und aufgeschlossen ist. So beschäftigt er etwa Männer aus der Fremde, die Schiffe angespült haben, aus Ecken der Welt, die kaum einer hier kennt und er zuckt die Achseln über das Stirnrunzeln der Skeptiker, die das hinterfragen. Jeder war schließlich irgendwo geboren.
Fünf Mädchen, kein Sohn. Ein Umschlag mit Geld zu Weihnachten, der sich anfühlt als solle er ihn zum Schweigen bringen. Ermahnungen, Warnungen. Der Hinweis darauf, wer hier die Macht in Händen hält, ist gut gemeint und Bill entscheidet. Nach seinem Gewissen.
Auch diesmal finden wir uns bei Claire Keegan in Irland wieder, wir schreiben das Jahr 1985. Armut, Auswanderungswellen und religiöse Konflikte beuteln das Land. In diese Zeit wirft Claire Keegan ihre Geschichte hinein, die Figur ihres Bill Furlong geht auf die vierzig Lenze zu, dreht sich fleißig im Hamsterrad, fragt sich aber zunehmend oft, wozu. Konnte, sollte es da nicht mehr geben? Da macht er auf einer seiner Auslieferungstouren eine Begegnung, die alles verändert. Eine Begegnung, die seine wohlgeordnete und durchstrukturierte Welt ins Wanken brachte.
In diesem Dezember, der ein Dezember der Krähen war. So viele von ihnen, ganze Schwärme, hatte man noch nie zuvor im Ort gesehen. Ihr Nist-und Sammelplatz war das nahe gelegene Kloster. Ganz unheimlich wurde einem ums Herz, wenn man dort in ihre Nähe kam …
Claire Keegan schlägt an dieser Stelle ein dunkles Kapitel der irischen Geschichte auf. Bis ins 21. Jahrhundert betrieb häufig die Kirche sogenannte Magdalenen Wäschereien. Dahinter verbargen sich Einrichtungen für Frauen, die nach gängigen Moralvorstellungen als “gefallen” galten. Nicht selten waren sie durch Vergewaltigung in andere Umstände geraten, oder durch Missbrauch innerhalb der eigenen Familie, wurden der Hysterie oder kleinerer Vergehen bezichtigt. Die Frauen wurden dann zur Zwangsarbeit verpflichtet, auf unbestimmte Zeit unter unwürdigen Umständen festgehalten, weggesperrt, ihre Kinder zur Adoption freigegen und/oder verkauft. Vielfach wurde diese Vorgehensweise durch die Bevölkerung gebilligt, schließlich handelte es sich ja um kirchliche Einrichtungen. Da zog man Recht und Unrecht nicht in Zweifel.
Bills Frau gehört in dieser Geschichte zu denjenigen, die das Offensichtliche nicht Frage stellen. Ihr Glaube an die Institution der Kirche scheint unerschütterlich. Da ist es ihr näher die Einstellung ihres Mannes anzugreifen …
Kürzlich erst habe ich Euch die Erzählung Das dritte Licht von Claire Keegan vorgestellt und geschrieben, das sei meine erste Begegnung mit ihrem Erzählen gewesen, aber nicht meine letzte. Habe ich tatsächlich eine neue Lieblingsautorin gefunden oder war das eine Eintagsfliege, fragte ich mich, wollte es wissen und legte direkt nach mit dieser Geschichte, die Keegan im Original im November 2020 veröffentlicht hat. 2022 wurde sie dafür mit dem Orwell Prize for Political Fiction ausgezeichnet und war shortlistet für den Rathbones Folio Prize und den Booker Prize. Ins Deutsche übersetzt für den Steidl Verlag hat auch diesmal Hans-Christian Oeser und seit 30.09.2023 ist auch hiervon eine ungekürzte Hörfassung erhältlich. Für den BonneVoice Hörbuchverlag (ich bedanke mich für das zur Verfügung gestellte Downloadexemplar) liest:
Stefan Wilkening, geboren 1967 in Hatzenport, deutscher Schauspieler und Sprecher und er liest nicht einfach nur vor, er erzählt. Seine Stimme klingt sanft und es fühlt sich so an, als habe man bei ihm in einem bequemen Sessel am Kamin Platz genommen. Nachdenklich und feinfühlig gibt er Keegans Geschichte Kontur, lässt ihr Personal heraustreten, Jahreszeiten und Szenerie so plastisch werden, dass man meint als Hörer:in eintreten zu können. 2 Stunden und 22 Minuten lang wanderte ich mit ihm durch die Welt dieses rund 105 Seiten umfassenden Kurz-Romans. So muss Hörbuch sein! Lasst Euch diese Geschichte im Advent vorlesen, wenn hoffentlich ein paar Flocken fallen und wundert Euch nicht, wenn ihr dann ein Klopfen hört, die Tür öffnen wollt um Bill Furlong hereinzulassen. So sehr wird Euch dieser Vortrag vereinnahmen. Versprochen!
Ein persönliches Nachwort von Keegan rundet das Erzählte ab. Der historische Hintergrund taucht darin auf, wie ein geisterhafter Schatten. Wir erfahren, dass die letzte der von der katholischen Kirche und dem irischen Staat finanzierte “Magdalene Laundrie” erst 1996 geschlossen worden ist. Offiziellen Aufzeichnungen zufolge wurden zwischen 1922 und der Schließung des letzten Heimes 10.000 Frauen aufgenommen, die Dunkelziffer aber scheint weit größer. Schätzungen gehen von mindestens 30.000 teils noch Mädchen aus, die ohne Lohn zu erhalten, der Ertrag ihrer Arbeit ging ausschließlich an die Kirche, dort schuffteten. Unglaublich, dass es ausgereicht hat über dreißig Jahre alt und unverheiratet zu sein um dort “eingeliefert” zu werden. Stellte Frau doch dann angeblich eine Bedrohung für verheiratete Männer dar!
Claire Keegan sorgt dafür, dass ich zu recherchieren beginne, mehr erfahren möchte und das letztlich auch tue. Dafür verehre ich sie mindestens genauso sehr, wie für die erzählerische Ausgestaltung ihrer Mikrokosmen und sie hat völlig recht, es sind die kleinen Dinge, die den Unterschied machen. In unserem Sprachgebrauch, in unserem Denken, in unserem Handeln, in unserem Miteinander.
Small things like these …
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