Mary & Claire (Markus Orths)

Woher stammt sie, die Idee zu genau dieser Geschichte? Wer war die Frau, die sie seinerzeit sich ausgedacht hat? Wie kommt es, dass ausgerechnet ein Monster durch ihre Gedanken geisterte und ein Sommer am Genfer See ihr Inspiration war? Was hatte am Ende Lord Byron damit zu tun und wieso ist diese Erzählung bis heute in aller Munde? Weil sie verwegen ist und mutig? Uns schaudern lässt und wir uns insgeheim fragen, ob es nicht doch möglich ist, jemanden von den Toten zurückzuholen? Wovon ich spreche? Die Rede ist von “Frankenstein” und seiner Schöpferin Mary Shelley, geb. Godwin. Dafür, dass auch die Entstehungsgeschichte dieses Stücks Literatur erzählt gehört, tritt Markus Orths den Beweis an. Kommt mit und wir folgen ihm ein Stück, reisen zurück in die Zeit, in der alles begann:

Der einzige Lichtblick lag in den Buchstaben. Diese wunderlich verhexten winzigen Dinger, die sich zu Kohorten rotteten und ordneten in den schönsten Gebilden auf Erden: den Büchern. Dort drinnen tanzten sie zueinander hin, in die rechte Reihenfolge, wurden zu Geschichten, zu Bildern oder zur reinstem Klang”.

Textzitat Markus Orths Marie & Claire

Mary & Claire von Markus Orths

Würde es Mary nicht geben, wäre ihre Mutter noch am Leben. So sieht sie das. Am Wochenbettfieber war sie gestorben, nur wenige Tage nach Marys Geburt. Ende August 1797 und sie fehlt ihr.

Der Vater hatte danach länger gesucht, nach einer neuen Frau und dann hatte SIE ihn gefunden: Mary Jane Clairmont. Zu der ebenfalls eine Tochter gehörte. Jane, und so bekam Mary, neben Fanny noch eine Schwester, und eine Freundin. An den guten Tagen.

An seinen guten Tagen war Marys Vater, William Godwin, Schriftsteller. Die Vormittage gehörten ihm und dem Schreiben, die Nachmittage seinen Mädchen. Er las ihnen vor, vergaß dabei ein wenig, dass seine Geschichten von einer zunehmend kleiner werdenden Leserschaft gemocht wurden und das seine neue Frau die Familie inzwischen mit ihrem kleinen Kinderbuchverlag und ihren Übersetzungen über Wasser hielt. Dabei übersah er auch, wie sehr sich seine Frau immer mehr zur alleinigen Bestimmerin entwickelte. Mary war ihr zu aufsässig. Wollte sich nicht in die neue Familie fügen. Ein Internat schien da die perfekte Lösung.

Der Vater wehrte sich nicht, Mary schon, sie nahm Reißaus, wollte nicht nur lernen hübsch auszusehen, um eine Rolle auszufüllen, in der andere sie sahen. Sie wollte mehr. So landete sie bei einer befreundeten Familie in Schottland. Lernt deren Tochter kennen. Isabella war mit ihren sechzehn Jahren ein Jahr älter als Mary, und wußte schon soviel mehr als sie. Über das was einem ein flaues Gefühl im Magen macht. Über Blicke und junge Männer. Derweil Mary in Schottland ihre ersten Schreibversuche unternimmt, verliebt sich zu Hause Jane in einen Dichter. Percy Shelley hatte sie “umgeworfen” wie sie Mary in ihren schwärmerischen Briefen gestand.

Moment mal, der Kerl heißt Shelley? Das riecht für mich nach einer gewaltigen Belastungsprobe für die Freundschaft der Stiefschwestern. Aber hören wir mal weiter.

Shelley war ein Sohn der Nacht, schlaflos wachend auf der Suche danach, was wohl nach Mitternacht passiert. Süchtig nach den Schatten und nach Buchstaben. Schreiben will er und lesen und Mary, als er sie nach ihrer Rückkehr kennenlernt. Die scheint gleichermaßen fasziniert von ihm. Die Liebe fällt zwischen sie und stiftet eine wilde Ehe, der Vater tobt, besorgt um Marys Ruf, denn Percy ist bereits verheiratet. Jane das Unvermeidliche und die drei erleben eine spannende gemeinsame Zeit. Genießen den gemeinsamen Nenner den sie haben: Die Suche nach der passenden Form sich auszudrücken. Jane durch Schauspiel und Gesang, Mary und ihr Shelley mit Worten. War es zu Beginn noch lyrisch, sollte es schaurig werden. 

Markus Orths, geboren am 21. Juni 1969 in Viersen, Autor und ehemaliger Lehrer hat in seinem Roman Picknick im Dunkeln (den ich jetzt unbedingt auch noch lesen muss!) Stan Laurel und Thomas von Aquin als Diskutanten aufeinandertreffen lassen, in seinem aktuellen Roman stellt er uns Mary Shelley vor, die als Figur nicht minder faszinierend ist. Von leichter Hand, als habe es keine Mühe gekostet, fließt dieser Text. Vereinnahmt mich mit seiner Stimmung, seiner Sprache. Seinem eigenen Humor, den Orths fein einsetzt, um dem historischen Kontext nicht zu schaden. Eine Balance, die ihm ganz wunderbar gelingt, finde ich.

Ich mochte es, wie kurze knackige Sätze den vorangegangenen nachhängen, sie verstärken, auf den Punkt kommen, wie Paukenschläge nachhallen. Das kann Markus Orths und noch viel mehr. Die ruhige und auch schelmische Art mit der er Mary Shelley groß werden lässt, hat mir gefallen. Die innere Unruhe, den wachen Verstand, den Mut der erwachsenen Mary mochte ich sehr. Auch die Figur der Claire ist facettenreich angelegt. Die Abhängigkeiten und Widerhaken einer polarisierenden Dreiecksbeziehung verblüffen und trieben mich in der Geschichte voran.

Das Gefühl in der eigenen Wohnung eingesperrt zu sein. Hat Mary. In einer Wohnung mit Blick auf das nahegelegene Gefängnis, nebst Hinrichtungsplatz. Heute sollte dort wieder vollstreckt werden. Hoffentlich kamen dabei nicht wieder Schaulustige zu Tode. Überrannt und zertrampelt. Es wäre nicht das erste Mal.

Sie fliehen nach Frankreich. Zu dritt. Mit schlechtestem Gewissen. Mary lässt den Vater hinter sich und ihre alte Welt. Aus Mary Jane wird Claire. Sie kommt zu sich. Meint sie. Ihre Mutter ist da anderer Meinung. Gemeinsam mit zwei Verliebten durchzubrennen ist Wahnsinn. Vielleicht.

Eine Rückkehr nach London. Eine ménage à trois. Eine Schwangerschaft. Geächtet. Überschuldet. Am Ende. Aber wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. Andere schaffen es auch. Er zum Beispiel. Allein am ersten Tag soll sich Byrons Korsar zehntausend Mal verkauft haben. Als könne man verhungern ohne Gedichte. Schlange gestanden um ein Exemplar zu ergattern, das hatte auch Claire und das vorletzte in ihrer Buchhandlung ergattert. Aus ihm liest sie Percy vor. Im gemeinsamen Bett. Wenn Mary nebenan schläft.

Eifersucht und Streit. Eine Geburt und ein Todesfall. Eine Idee wird geboren.

Ein gezähmter Bär hinter einem Vorhang, ein halbes Dutzend Katzen, ein wildes Gemach, willkommen im Reich von Lord Byron. Claire braucht ihren Fächer und ein wenig scheint es sie zu reuen, dass sie diese ungestümen Bewundererbriefe an Byron geschrieben hat. In dem Bestreben sich endgültig von Percy Shelley und Mary zu lösen.

Eine Reise an den Genfer See, die, sei es aus Wagemut oder Mutwillen, beinahe übel in einem Blizard endet. Ein Treffen mit ihm. Dort. Mit Lord Byron. Dem Rockstar unter den Dichtern seinerzeit. Gefeiert, extrovertiert, sein Lebensstil und Wandel verschroben bis skuril. Claire liebt ihn. Glaubt sie. Fest und unumstößlich. Marys Percy vergöttert ihn. Wie bitter es aber auch war, diese Leichtigkeit zu sehen, mit der aus Byron alles förmlich herausfloss, wohingegen Shelley selbst unter einer anhaltenden Schreibblockade litt.

“Was auch immer Byron wahrnahm, floss sofort in eine Zeile. Jedes Gefühl, jedes Ding, alles Erlebte wurde vom Schreiben verschlungen. Zwischen ihm und der Welt stand jederzeit die Möglichkeit eines Gedichts.”

Zitat Markus Orths Marie & Claire

Eine Roman Idee, geboren in einer Schicksalsnacht, das Wetter in Aufruhr, im Blut Laudanum. Frankenstein. Ein Name der bleibt. Ein Name, der sie unsterblich machen wird.

Sie verliert ein weiteres Kind. Percy Shelley ertrinkt. Das Kleeblatt, dass sie einst waren, gibt es nicht mehr.

Markus Orths lässt seinen Blick wie einen Suchscheinwerfer wandern. Schaut mal intensiver auf Claire, dann auf Percy und wieder auf Mary. Summa summarum hatte ich mir erhofft, mehr darüber zu lesen, wie Marys Frankenstein entstand. Ein wenig klingt es an, auch Mary Shelleys außergewöhnliche Gabe genauso zu erzählen. Ihre Faszination für die Finsternis. In jedem Fall machte mir diese unterhaltsame, sprachlich wunderbare Geschichte Lust darauf mehr über Mary Shelley, besonders über ihr Schreiben zu erfahren und zum Glück befindet sich in meinen Bücherschrank noch ungelesen ihr Roman Der letzte Mensch …

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