<Dein Gewicht spielt keine Rolle>. Sagt man so und doch tut es das. Besonders bei Frauen. Auch für mich hat es Bedeutung. Denn ich war ein dickes Baby. Ein dickes Kind. Ein dicker Teenager. Kenne diese Sprüche. Alle. Passte nicht zu gängigen Schönheitsidealen. Zu Schulkamerad:innen. Tue es bis heute wohl nicht. Passe jetzt aber zu mir. Freundinnen können essen was sie wollen und nehmen dabei auch noch ab. Schaue ich ein Stück Torte nur an, habe ich ein Kilo mehr auf der Hüfte. So ein Stoffwechsel ist ein trickreiches Wesen. Ihn zu verstehen hat gedauert. Jahre. Auch die Gründe warum ich esse und was. Heute bedeutet Essen für mich Genuß und meinen Körper mit notwendiger Energie zu versorgen. Ihn zu achten. Zu pflegen. Gut zu ihm zu sein. Wie dick ich bin entscheide ich. Nicht andere. Auch das hat gedauert. Vielleicht mochte ich genau deshalb diese Geschichte so gern, schaut mal hier:
Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher
1983. Sie hatte schlicht vergessen zu tanken. So waren sie liegen geblieben, sie und ihre kleine Tochter. Mit ihrem VW Käfer. In Orange. Ihre Flucht schlägt fehl.
Eine Flucht vor Eltern und Schwiegereltern, die sich nicht leiden mögen. Weil die einen sind von auswärts, aus Schlesien, keine richtigen Deutschen. Die anderen wohnen mit im Haus, sind die Eltern des Vaters ihres Kindes. Mögen sie auch nicht. Die Schwiegertochter. Weil sie ist auch eine von ihnen, von den Auswärtigen und zu dick. Das auch. Sie hat kein Maß. Nicht beim Geld und nicht beim Essen.
Ela ist ihre Tochter und jetzt sechs, der Haushalt, indem sie aufwächst, scheint sich von Streitigkeiten zu ernähren, alle zanken ständig und Schuld hat anscheinend immer nur sie, ihre Mutter.
Die zu kämpfen hat. Mit ihrer Herkunft, ihrer sozialen Stellung, damit sich zu behaupten. Als Frau. Gegen einen Mann, der sich ebenfalls benachteiligt fühlt. Vom Leben. Dem Chef. Dem der berufliche Aufstieg, für den er hart arbeitet versagt bleibt.
Nein, Ela, zu schweigen ist nicht gleich lügen und auf den richtigen Zeitpunkt, um das Richtige zu sagen, kommt es an. So oft. Du aber plapperst und bringst Deine Mama in die Bredouille. Auch diesmal. Wenn auch arglos.
Sie wurde befördert, die Mama, zur Chefsekretärin einer kleinen Lederwarenfabrik und jetzt steht eine Geschäftsreise nach Marokko für sie an. Sie verdient jetzt auch mehr, aber trotzdem ist der Vater nicht zufrieden. Obwohl er ihr die ganze Zeit vorwirft, sie bringe nicht genug nach Hause. Im Gegenteil. Es wird schlimmer. Mit ihm und seinem Umgangston. An den Abenden bleibt er nicht mehr zu Hause. Wirkt beleidigt, neidisch. Auf den Erfolg seiner Frau. Lässt seine Launen mehr und mehr an ihr aus. Spielt sich auf, während sie nach Verständnis sucht, um Unterstützung bittet und zwar ihre Eltern. Die da stur sind und es bleiben. So war das eben, wenn Frau unter ihrem Stand heiratete. So sah es ihr Vater. Es war ihre Entscheidung gewesen und mit ihr musste sie jetzt ebenso leben, genauso wie mit diesem Mann …
Daniela Dröscher, geboren am 4. Juni 1977, studierte in Trier und London, gehörte in diesem Jahr zu den Nominierten für den Deutschen Buchpreis, schaffte es bis auf die Shortlist. In ihrem autofiktionalen Roman Lügen über meine Mutter nutzt Dröscher die Kleine Ela als Alter-Ego und versucht in der Rückschau ihre Kindheit besser zu verstehen, das in dem sie sich selbst als Erzählerin immer wieder einbindet um einzuordnen, zu hinterfragen. Sie bildet ein Zeitfenster von vier Jahren ab, in dem Kaugummiblasen platzen, ABBA durch die Wohnung tönt. Laminat herausgerissen, zur Kur gefahren und diätet wird.
Zeichnet ein Bild von Eheleuten, Eltern, die einander nichts mehr fragen, die allein entscheiden, denen Gemeinsamkeiten verloren gehen. Wenn sie denn jemals welche hatten. Wir erfahren von einem Geheimnis, das eine Freundschaft zum Bersten bringen kann.
Die Rollen sind klar verteilt. Der Herr des Hauses spielt Tennis, derweil die Mutter zu funktionieren hat. Als Pflegekraft, Haushaltsvorstand, Köchin und Putzfrau. Anstelle von Wertschätzung hagelt es Vorwürfe und selbst als ein unerklärliches Schmerzsyndrom die Mutter ausbremst, gibt es kein Pardon. Als Leser:in hat man da mehr als eine Faust in der Tasche.
Seelenblindheit und vergrabene Erinnerungen. Im Stil eines Interviews mit Flashbacks gestaltet Daniela Dröscher ihre Geschichte. Sie spiegelt eine Zeit, in der eine Erbschaft und eine Alzheimer-Diagnose eine Familenmanagerin mit Herz und Verstand beinahe um denselbigen bringen. Die einer Respektlosigkeit die Stirn bieten muss, die mich auf den Tisch springen lässt.
Ein Sympathiebolzen ist dieser Mann wahrlich nicht! Einige empörte Stimmen über diese Figur hatte ich schon aufgeschnappt bevor ich in die Geschichte gestartet bin. Wieviel Wahrheit und wieviel Fiktionen in ihm steckt weiß nur Daniela Dröscher allein.
Gewiß ist, die Figuren Zeichnung ist ihr mehr als sehr gut gelungen und die Art wie sie erzählt ist es, die mich die Ohren aufstellen lässt. Der Clou an der Geschichte ist für mich das erwachsenwirkende, teils fragmentarische Erzählen aus der Perspektive einer Sechsjährigen. Dröscher schafft es dabei weder naseweis noch neunmalklug zu klingen. Spiegelt die Geschehnisse und die Zeit ohne zu moralisieren oder zu werten. Unsere Eindrücke zählen und sie schlagen auch ganz unterschiedlich in mir ein. Sie verstrickt mich tief, alsbald schon fühle ich mich nicht mehr nur als bloße Zuschauerin.
Vielleicht, weil wir so einiges gemeinsam haben, Frau Dröscher und ich. ABBA hören zum Beispiel. Auch für mich war es ein Aufwachsen unweit des Truppenübungsplatzes Baumholder, an einem der Ränder dieses riesigen Gebietes, dem viele Ortschaften weichen mussten, steht auch mein Elternhaus. Auch wir spürten die Erschütterungen bei Panzerschießübungen und auch uns klirten dann die Gläser im Schrank. Auch meine Großeltern mütterlicherseits stammten aus Ostpreußen und es hat schwer gehakt zwischen meinen Großeltern. Auch im Hinblick auf meine Mutter. Eine Fremdheit, die ich als Kind nicht einordnen konnte.
Vieles was Daniela Dröscher thematisiert, wirft mich auf mich selbst zurück. Uns trennen rund zehn Jahre Lebensalter, aber es verbindet uns durch unser Erleben viel. Das ist es was Literatur kann und was sie auch muss. Für dieses Nachdenklichmachen, für den Zorn und auch für das Versöhnliche, das diese Geschichte hat, für dieses gekonnte Wechselspiel mochte ich sie. Besonders dafür. Aber auch für’s auf die Folter spannen. Ich lauerte auf das was wohl als nächstes geschehen würde, applaudierte für stilles Aufbegehren und bejubelte die Standhaftigkeit dieser Mutter, bei ihren Versuchen Parolie zu bieten, das was IHR wichtig war durchzusetzen. Ihre Weiterbildung in die Hand zu nehmen. Ich fühlte mit ihr, weil sie beständig torpediert und nie unterstützt wurde. Vorwürfe. Die hört sie stattdessen ständig.
Als eine Schwangerschaft ihre Marokko Pläne durchkreutzt und stattdessen ihr Mann beruflich nach China reist, einen großen Kunden seiner Firma betreuen, danach mussten sie ihn doch befördern, bin auch ich tief enttäuscht. In der vorauseilenden Annahme eines Geldregens tauscht er tatsächlich seinen alten BMW gegen einen neuen Audi, nicht nur das ganze Dorf zerreisst sich das Maul, ich hätte ihn auch gern dafür geschüttelt.
Sprache ist die Währung, die über Zugehörigkeit entscheidet, schreibt Daniela Dröscher und ich nicke innerlich. Durch Sprache kann man sich weit voneinander entfernen oder sich einander annähern. die Wunden, die einmal Gesagtes schlägt heilen lange nicht.
Spricht man Dialekt wie ich, und zwar den der im Hunsrück zu Hause ist, horcht man unweigerlich auf, wenn Daniela Dröscher ihn einbindet. Insbesondere ihre Oma Martha lässt sie im Dialekt auftreten. <So ein Zores>, schimpft die Martha und ich lächle. Trotzdem sich ihre Geringschätzung durch den Dialekt im Roman noch verstärkt, höre ich da auch meine eigene Oma. Die nutzte dieses Wort immer liebevoll – auch das kann Dialekt. Er hat Charme und wir sollten ihn nicht links liegen lassen. Hier fügt er sich sehr gut ein, auch wenn in der Hörbuch-Fassung die Vorleserin etwas Mühe mit ihm hatte:
Sandra Voss, ehemalige Moderatorin von Klassik Radio liest und stolpert über die Hunsrücker Vokabeln, was aber nur die stören wird, die sie so wie ich aussprechen können, weil sie sie in der Muttermilch hatten. Sie fühlt sich stimmlich sonst sehr gut ein und gibt nicht nur Ela, sondern auch den Nebenfiguren der Geschichte Kontur. Ihr Vortrag ist empathisch und wo nötig zurückhaltend, damit diese Geschichte ihre stille Wucht entfalten kann und das tut sie. Bis zur letzten Silbe …
Wie schön, Dorothee, dass wir diesen Eindruck gemeinsam haben und teilen können. LG an die Küste von Petra
Hallo Petra!
Ein ganz wunderbarer Roman, den auch ich unbedingt empfehlen kann!!!
Liebe Grüße aus Kiel von Dorothee