Wir messen die Zeit in Jahren, Monaten, Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden, während sich unsere Erde kontinuierlich, leicht geneigt, um die eigene Achse dreht. Der Wechsel von Tag und Nacht, das Licht unserer Sonne, ist der Rhythmus unseres Lebens. In der Dunkelheit der Nacht suchen wir Schlaf und Erholung für unser Tagwerk.
Je weiter man gen Norden kommt und sobald man den Polarkreis überschreitet, desto weniger Verlass ist im Lauf eines Jahres darauf, das es am Abend dunkel wird. Im arktischen Sommer geht die Sonne nicht mehr unter und im arktischen Winter nicht auf. Man kann dann balancieren, auf der Grenze zwischen Tag und Nacht, findet selbst in diesen Jahreszeiten die Verlässlichkeit, dass die Gestirne wieder wechseln und der Gedanke daran, dass diese Beständigkeit, die den Rahmen unseres Lebens bildet, verloren gehen könnte, ist für mich undenkbar.
Mit dem Undenkbaren, dem Unfassbaren, beschäftigen sich Literatur und Lyrik nicht selten. Suchen wir doch ein Leben lang. Nach Erklärungen für das Unerklärliche, für die Wehmut in uns. Nach Sinn und Liebe. Das Wissen um die Endlichkeit unseres Lebens, dass wir genau das nicht kontrollieren können, das kein Verlass mehr ist auf das was eben noch galt, ängstigt uns, es kommt uns mit jedem Tod eines geliebten Menschen näher, dann suchen wir Trost. Finden ihn in einer Umarmung, in einem Gespräch, in unserem Glauben, in einem Gedicht.
Die Lyrik kann das so gut. Trost spenden. Verse verstehen uns, wir fühlen uns gesehen, gelesen und verstanden. Oft ist es so, als habe sie jemand nur für uns geschrieben. Ihre Schönheit vermag Trauer nicht aufzulösen, aber für den Moment, in dem man in einem schönen Satz verweilen darf, wird es licht und hell in uns.
Das vielleicht berühmteste Zitat von Vicco von Bülow alias Loriot lautet: „Ein Leben ohne Mops ist möglich aber sinnlos.“ Für mich gilt in Bezug auf die Lyrik das Gleiche und wem es genauso geht, für den habe ich heute eine Gedichtsammlung mitgebracht, die unter der Überschrift steht, dass auf die Gestirne und Uhren kein Verlass sei.
Sie stammen von Renate Schmidgall. Die am 26. März 1955 in Bonn geborene Dichterin, Bibliothekarin und Slawistin, arbeitet seit 1996 als freie Übersetzerin aus dem Polnischen und lebt in Darmstadt. 2025 wurde sie mit dem Übersetzerpreis Ginkgo-Biloba für Lyrik des Freundeskreises des Literaturhauses Heidelberg, für herausragende Leistungen im Bereich der Übersetzung fremdsprachiger Lyrik ausgezeichnet. Lange Zeit hat Renate Schmidgall Gedichte aus dem Polnischen übersetzt, dafür wurde ihr der Europäischen Übersetzerpreis Offenburg verliehen. Ihre eigenen Verse fand man bislang nur einzeln in Zeitschriften veröffentlicht. Bis jetzt. Bis der Secession Verlag, lieben Dank für das Besprechungsexemplar, sie aufgesammelt und kuratiert hat…
Liebesgedichte befinden sich unter ihnen. Keine schwärmerischen, eher melancholisch und vermissend klingen sie und die Sätze, die sich in ihnen gegenüberstehen, fragen sich warum sie nicht bleiben wollte, nicht bleiben konnte. Die Liebe. Ohne Kitsch und Pathos, sanft und leise, sind die Verse von Renate Schmidgall. Sie klingen nach, besonders wenn man sie laut liest.
Das habe ich schon an anderer Stelle verraten, dass ich das bei Gedichten oft tue. Sie mir selbst laut vorlesen. Weil man sie dann anders spüren kann. Sie dann tiefer gehen. Bitte mal ausprobieren, auch mit diesen hier, die von Schmetterlingen, von Winterlicht, der Unbeirbarkeit von Amseln, von Sonntagen, reifen Kirschen, Abschieden, Lebensläufen, einem traurigen März, der Herrlichkeit des Lebens und von dem was bleibt erzählen. Eine ganze Menge geht da vor sich. Wird verhandelt. Angedeutet.
Sortiert sind sie in Kapitel und chronologisch nach ihrem Entstehungsjahr aufgelistet. Eine Ordnung, die ihn geschicktem Widerspruch zum Titel der Sammlung steht, der mich so sehr angesprochen hat und der gleichzeitig der letzte Satz in Schmidgalls Gedicht mit dem Titel stirbst du nicht ist.
Stirbst du nicht diesen Tod, wirst du einen anderen sterben.
Indessen spielen Kinder im Sand, bauen Burgen,
die Möwe hinterlässt ihre Spur:
flüchtig wie deine Hand auf meinem Arm.
Bei Vollmond streiten wir uns.
Strömung trägt Land ab, Wind formt Bäume.
Am Kirchturm rostet die Zeit.
Kein Verlass auf Uhren und Gestirne.
Ganz fein und sehr genau beobachtet Renate Schmidgall und ein Dichterkollege von ihr meint, ihre Verse seien leise und zugleich „ein Lautsprecher für das Flüstern in unserer lärmenden Welt.“ Sehr gerne schließe ich mich da an, suche nach eigenen Worten um zu beschreiben wie sich diese Gedichte für mich anfühlen.
Leicht und schwer zugleich, spielen sie für mich mit diesem Kontrast und ich mochte sie gerne. Kristallklar sind sie, einfach und ohne Schnörkel. Manchmal ganz leicht lakonisch, oft nachdenklich und reflektierend. Ein sehr schönes Beispiel wie aufmerksam und kurzgefasst Schmidgall Alltägliches spiegelt gibt für mich ihr Gedicht:
Oktober, Regen
Ich schaue aus dem Fenster
auf die Straßenlaterne, unter der in dünnen Streifen das Licht
in die Nacht sickert.
Für alle, die es brauchen.
Bonanza am Samstag und das wöchentliche Bad, Winnetou verkörperte das Gute, danach Zahnpasta mit Himbeergeschmack. Ich lächle, weil ich auch das aus meiner Kindheit so erinnere.
Winterkahle Bäume, diskretes Zwielicht und Kronleuchter. Mohn und Kamille, eine Windmühle ohne Flügel, raschelndes Licht und Versuche Melancholie mit Billie Holiday aufzumuntern.
Die Palette dieses Dichtens ist farbenfroh und facettenreich. In vielen Szenen fand ich mich wieder. Hatte Freude an ihnen. Konnte leise werden. Hatte Heimweh mit der Dichterin, nach einem fremden Ort. War herzwund.
Die Zeit ist taub, kein Empfinden rührt sie, schreibt Renate Schmidgall und ich verstehe. Stoisch vergeht sie. Die Zeit. Lässt uns stehen, wenn es ihr beliebt, läuft weiter auch dann noch, wenn es uns längst nicht mehr gibt. Weil es diesen einen Schlusspunkt für uns alle gibt.
Am Ende eines jeden Jahres steht Weihnachten vor der Tür, Kerzen erhellen uns dann vergangene und zukünftige Tage. Beleuchten unsere Sehnsucht nach Zuversicht.
Mit einem letzten, hellen Gedicht von Renate Schmidgall, an dem man, wie ich finde, sein Herz wärmen kann, möchte ich diesen Beitrag beenden und Euch eine friedliche Vorweihnachtszeit wünschen:
Winterlicht
Winterlicht, das geometrische Muster des Schnees
auf den Dächern und der Mond eine weiße Feder.
Aus dem Schornstein steigt Rauch und duckt sich
in der kalten Luft.
Worte aus fremden Gedichten ziehen vorbei und reißen ein
Loch in den Himmel.

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