“Lassen Sie sich den Spaß an der Sprache, am Gedicht, nicht durch die angsteinjagende Frage <Was will uns der Dichter damit sagen?> vermiesen. Wenn das so einfach zu beantworten wäre, wäre möglicherweise ein Essay, eine Predigt oder ein Leitartikel die angemessenere Form um die “messitsch” rüberzubringen.”
Zitat Christoph Buchwald
Genau das habe ich mir vorgenommen, und genau das macht mir Freude und Vergnügen bei der Beschäftigung mit Sprache und Lyrik. Beim Lesen von Gedichten versuche ich stets meinen Kopf aus- und meinen Bauch und mein Herz einzuschalten. Ich spüre dem Gefühl nach, welches Versmaß, das gewählte Wortmaterial und/ oder die Technik des Ausdrucks in mir auslösen. Macht mich dieser Textschnippsel nachdenklich, ängstlich, ärgerlich, oder vielleicht sogar wütend? Schrammt er am Kitsch entlang, oder entführt er mich in eine Gefühlswelt in der ich mich wohlfühle? Versöhnt oder verwöhnt er mich? Diese Sammlung hat mich reichlich und gleich mehrfach beschenkt. Mit Herausforderung, Nachdenklichkeit, Wortakrobatik, besonderen Satzmeldodien und mit Wort-Stakkati. Sie ist wie ein Klangkörper der tief im Inneren mit mir spricht …
rückzug ins innere von Dorina Marlen Heller von den wänden blättert die farbe ab nachts rieselt dir kalkstein aufs gesicht draußen haben längst die schlimmsten unter den narren das kommando übernommen öffnest du das fenster schlägt dir laut die welt entgegen aber du wohnst im inneren des kerngehäuses in der holzig feuchten fruchtstille wo alle farben wie durch augenlider gedämpft schimmern du kühlst dir die stirn an den glatten zellwänden atmest in dich hinein und das vorpreschen der jahre ist nur ein luftzug
Es gibt nicht einen einzigen Absatz oder Vers, der nichts in mir ausgelöst hat und wenn es ein Kopfschütteln des Unverständnisses war. Aber auch das ist erlaubt, das ich an Worten anstoße, über ihre Ecken und Kanten stolpere, mich an ihnen reibe, mich verletzte. Durch Sätze holpere, weil ich ihren Rhythmus nicht fühle. Dann begebe ich mich beim zweiten Durchlesen stets auf die Suche nach den Schlüsselwörtern, die in mir diese Bilder und Gefühle entstehen lassen, die auslösen was sie auslösen. Weil Lyrik das kann, weil sie schriftstellerisches Handwerk feiert und meine Leseseele nährt wie es kein Roman vermag, dafür liebe ich sie. Auch weil, wie es mir scheint, Sprache heute immer mehr an Bedeutung verliert. Kurznachrichtensysteme haben unsere Alltagskommunikation gekapert, Sätze werden bis zur Unkenntlichkeit durch Abkürzungen verunstaltet und mit Emojis aufgefüllt. Es kommt nicht mehr darauf an, wie wir etwas sagen, auch bei der Tonalität dürfen wir nicht empfindlich sein.
In den Schulen spielen Gedichte kaum noch eine Rolle, der Herausgeber dieses Jahrbuches schreibt in seinem Nachwort, für viele Deutschlehrer sei das Gedicht im Unterricht heute gar ein Angstgegner. Und er erklärt es so: “Wer sich nie die Zeit genommen habe um aufmerksam zuzuhören, der höre nicht das Wunder im Werk und schalte ab.”
Erwägungen von Christian T. Klein Das Unwägbare ist nicht gewichtslos, eher andersrum. Selbst die Seele wiegt überschlagene 21 Gramm, und jeder Gedanke hat das Gewicht eines Tropfens auf den heißen Stein Dies könnte ein Grund sein, weshalb Augenblicke meistens verdunsten, bevor sie uns etwas vom Wasser erzählen können. Sich verflüchtigen beim Zusammenstoß mit dem Vergangenen. Oder weshalb einige von uns freiwillig über glühende Kohlen laufen ...
Das erste Jahrbuch der Lyrik erschien vor 42 Jahren. Von 1979 bis dato, 2021 wurden insgesamt 35 Ausgaben verlegt. 2017 hat der Schöffling Verlag übernommen, zuvor sind die Jahrbücher bei der Deutschen Verlagsanstalt, Claassen, Luchterhand, C.H. Beck und S. Fischer erschienen. Gedichte von rund 850 Autoren aus dem deutschsprachigen Raum wurden so gesammelt, ausgewählt und publiziert, durchgängig seit 1979 ist er ihr Herausgeber, aber nach dieser Ausgabe wird er erstmals den Staffelstab übergeben:
Christoph Buchwald, geboren 1951 in Tübingen, studierte Kunstgeschichte Literaturwissenschaft und experimentelle Komposition. Mit seiner Frau leitet er gemeinsam seit 2002 den Literatur-Verlag Cossee in Amsterdam, übersetzt Gedichte aus dem Niederländischen und nach dieser 35. Jahrbuch-Ausgabe will er den Staffelstab an einen Nchfolger übergeben. Matthias Kniep, Programm-Verantwortlicher beim Berliner Haus für Poesie soll übernehmen. In jedem Jahr unterstützte den Herausgeber ein Dichter oder eine Dichterin bei der Schwerstarbeit der Auswahl und beim Anlegen von Bewertungskriterien. Für die Ausgabe des Jahres 2021 war dies:
Carolin Callies, geboren 1980 in Mannheim, die Autorin und Literaturvermittlerin lebt in Ladenburg bei Heidelberg und wurde für ihre eigenen Gedichte mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.
Aus den eingesandten Texten von über 600 Dichter*innen haben beide ausgewählt, thematisch gegliedert und wie in jedem Jahr hat es dabei Vertreter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und ich entdecke einen Bekannten: FRANZOBEL.
Als Themen finden sich Natur, Gegenwärtiges und Vergangenes. Gedenken und Andenken. Helden und Heldinnen. Solche die gehört und solche die überhört wurden. Und wie könnte es anders sein, Wörter und Satzgebilde die die pandemische Lage beschreiben hat es diesmal auch. Und was für welche, “lungenverzehrende” und “Seuchenzüge”, solche die eigens zur Beschreibung unserer Gefühlslage erfunden wurden.
Warum bin ich eigentlich erst in diesem Jahr auf diese liebevoll zusammengetragenen Sammlungen aufmerksam geworden? Keine Ahnung, aber jetzt war auch genau richtig. Es war mir eine Freude die Unterschiedlichkeit der Themen, die Buntheit der Schreibtechniken die sich hier versammeln zu entdecken. Die Vielfalt die hier abgebildet wird ist beeindruckend, den dargebotenen Sprachschatz erlebe ich wie einen Rausch.
Das Versmaß der hier versammelten Gedichte könnte ebenfalls nicht unterschiedlicher sein, manchmal stolperte ich über einen Zeilenumbruch und dann machte er doch wieder Sinn. Dann vermisste ich Kommata und andere helfende Satzzeichen, las zweimal, dreimal und verstand. Ich entdeckte völlig neue Wortkreationen. So zu lesen ist mir Herausforderung und Ansporn zugleich und gerne habe ich mir immer auch ein noch ungelesenes Gedicht für den kommenden Tag aufgehoben. Dieses hier z.B.:
gefallen von Rainer Stolz hingefallen bin ich oder hergefallen ist die schwerkraft über mich, schlicht fiel ich in mein eignes gewicht, entgegen dem schwung der einkaufstaschen machte ich dem erdboden meine aufwartung, die mir erstaunlich welthaltig schien und zugleich leicht zu verschmerzen, beinahe als könnte ich dies wofür ich nichts konnte, das mir passierte während mir nichts passierte, wie einst als ich vom eschenbaum gefallen war in den kreis der familie, die sprache verschlagen, danke, es geht schon ich hab gleich wieder das sagen.
Ganz edel verpackt, und matt schimmernd mit silbernem Vorsatzblatt, warten im Innern dieser schönen Ausgabe seine Wortschätze darauf von Euch entdeckt zu werden und selbst das Dank-Schlußwort ist als Gedicht verfasst! Ich bin mir sicher, jeder wird hier sein eigenes Lieblingsgedicht finden, bei mir ist es mehr als eines geworden.
Die Poesie hat viele Gesichter, es gibt sie in vielen Farben und hier werden sie gespiegelt. In freundlicher Koexistenz dürfen alle Verse, alle Stile, alle Stimmen, gleichberechtigt nebeneinander stehen. Gleich ob kraftvoll, klassisch oder modern, immer sind sie ausdrucksstark und ich möchte gerne ermuntern, einladen, frei nach Loriot: Lasst mehr Lyrik in Euer Leben, denn ein Leben ohne Lyrik ist zwar möglich, aber völlig sinnlos …
Mein Dank geht an den Schöffling Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
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