Habt Ihr auch schon Träume erlebt, die so real waren, das Ihr nach dem Aufwachen fest geglaubt habt, das Geträumte sei wirklich passiert? Das es dann lange gedauert hat, vielleicht sogar ein Gespräch, eine Überprüfung gebraucht hat, bis klar war, das alles nur in Eurem Kopf stattgefunden hat? So habe ich tatsächlich vor vielen Jahren einmal geträumt, mein Vater sei gestorben. Bin am Morgen völlig fertig aufgewacht und habe ihn in aller Herrgottsfrüh angerufen. Was immer in uns vorgeht, vieles davon arbeiten wir in unseren Nächten ab. Versuchen es nach dem Aufwachen zu deuten, zu erklären, zu fassen, welche Bilder da in uns gearbeitet haben und warum. Manche von ihnen verblassen ganz schnell, wieder andere treiben uns durch den Tag und vielleicht noch länger um. Um Träume die so echt sind wie ein zweites Leben geht es in dem aktuellen Roman von Sandra Newman. Die im letzten Jahr mit ihrem Ice Cream Star (den ich noch nicht gelesen habe!) polarisiert hat. Hat sie doch für ihn eine eigene Sprache, einen eigenen Slang, erfunden und ihre Übersetzerin Milena Adam damit herausgefordert. Adam, in Berlin lebende Lektorin, ist jetzt vertraut mit Newmans Prosa und hat sich ebenfalls Himmel vorgenommen.
Sandra Newman, geboren 1965 in Boston/ Massachuesetts, lebte nach Verlagsangaben zwanzig Jahre in London, bevor sie in die Staaten zurückkehrte. Sie lebt heute in New York City. Hier und in London, zur Zeit William Shakespeares, verortet sie ihren “Himmel”, der seit 10.09.2020 in den Buchläden erhältlich ist.
Himmel von Sandra Newman
New York City. Wir schreiben das Jahr 2000, die USA haben eine Grüne Präsidentin?! und es herrscht Frieden! in der Welt.
Auf einer Party, auf einer Dachterrasse, im Himmel über New York begegnen sich zwei. Ben, Realist und Kate, die in einem Traum lebt und ihr Leben träumt …
Aufwachen in einem Traum. Der Boden ist mit Binsen bedeckt. Das Bett viel zu weich und von vier Vorhängen umschlossen, die nach Staub und Winter riechen. Von irgendwo her dringt das Gackern von Hühnern an ihr Ohr.
Der Dolch fiel ihr aus der Hand und klirrend zu Boden. Ihr Körper krampfte, ihr Hals brannte, dort wo die Klinge ihn durchschnitten hatte. Sie sank nicht, sie schlug hart auf, mitten auf der Bühne. Würde sie jetzt frei sein? Würde sie den Traum, der sie quälte jetzt und so verlieren, um zurückzukehren in die einzig wahre Realität?
“Nun, wenn ich Euer Traum bin, ist mein Tun nicht mehr mein eigen. Es ist von Eurem Traum gemacht.”
Textzitat Sandra Newman Himmel
Auf die sprachliche Ausgestaltung legt Newman auch in Himmel Wert. Das spürt man vom ersten Satz an, aber so richtig und besonders als die Geschichte ihren Schwenk zu Shakespeare nimmt.
Auf zwei Erzählebenen nimmt Newman mich mit. Mit Kate und Ben lebe ich von 2000 – 2011 in New York, bewege mich in der Welt der Reichen und Erfolgreichen. In Kates Traum ist es März, Anno Domini 1593. Ein Pestjahr in London. Ein Unglücksjahr und Emilia alias Kate ist schwanger. Mit ihr begegne ich William Shakespeare, dem traurigen Will. Noch ist er ein mittelloser, ein erfolgloser Zeitgenosse und ausgerechnet mit Emilia gedenkt er einen Pakt zu schließen. Mit der Frau, die seine Zukunft kennt und er stürzt sie damit in eine Abhängigkeit sondergleichen und in tiefe Verzweiflung …
Diese Weltenzeichnung von Newman habe ich wirklich gemocht. Beide Welten und Ebenen in diesem Roman kontrastieren sehr stark und genau das macht einen Teil seines Reizes für mich aus.
Nicht minder reizvoll fand ich, das sich diese wiederkehrenden Rücksprünge in der Zeit, nicht anfühlen wie ein Traum, sondern eher wie eine Wiedergeburt, wie eine Seelenwanderung in ein Paralleluniversum.
Zwei Erzählebenen, ein Wechselbad. Zunächst mochte ich die Dramaturgie und das Soghafte mit dem Newman ihre Kate immer mehr in ihren Traum verstrickt und mich zweifeln lässt, wo die Realität endet und der Wahn beginnt …
Bald schon steht für Kate und für mich alles Kopf. Newman zieht die Schrauben an, lässt mich schwanken zwischen Sein und Schein. Niemand glaubt Kate, bis sie selbst nichts mehr glaubt. Jeden Tag Dinge hinterfragt wie eine Alzheimer Kranke. Hat Kate jetzt einen Bruder oder nicht? Kannte sie ihren Vater oder nicht? War ihre Mutter fortgezogen oder nicht? Lebte Kate jetzt getrennt von Ben oder nicht? Schwanger ist sie offenbar tatsächlich im Hier und jetzt und auch in ihrem Traum. Aber von wem?
Eine geschundene, eine missbrauchte Frau scheint sie zu sein. Geschunden an Körper und Seele. Endstation Psychiatrie. Automatenkaffee aus Pappbechern. Schlangen vor der Methadonausgabe. Ben als Monster enttarnt? Seine Loyalität Kate gegenüber auf dem Prüfstand.
Eine Organisation für “Katalogbräute” und eine Stripperin an ihrer Spitze. Existiert oder existiert nicht? Die Penthouse-Wohnung mit Dachterrasse und Sabine, die reiche, erfolgreiche Gönnerin Kates gibt es oder gibt es nicht? Während dem Lesen fühlte ich mich bisweilen wie auf Droge. Newman pendelt mit mir, wandelt mit mir auf einem schmalen Grad zwischen Realität und Wahnsinn. Ich konnte Ben gut verstehen, wenn er sagt, er wird noch selbst verrückt und Kate, die sich in ihrem Zwischenwelten zu verlieren droht.
Aus einer verträumten Frau, mit der man sich gerne umgibt, wird in den Augen ihrer Umwelt eine Wahnsinnige. Eine, die noch dazu nicht wahrhaben will, dass Sie offenbar Hilfe braucht. Während die einen Zorn entwickeln, sind die anderen nur noch genervt. Oder sind etwa doch die anderen die Verrückten in diesem Spiel?
“Kate war ein Geldschlucker, ein Zeitschlucker, ein Energieschlucker. Wie Sabine es ausdrückte: Sie war menschlicher Treibsand.”
Textzitat Sandra Newmann Himmel
Seit der Idee der Zeitmaschine sind wir fasziniert von dem Gedanken durch eine Reise in die Vergangenheit die Welt verändern zu können. Man müsste nur an die Schlüsselfiguren der Geschichte ran kommen. Was wenn es tatsächlich möglich wäre durch einen Traum abzusteigen in eine andere Zeit? Wenn wir dort ein anderer sein könnten, mit dem Wissen von heute? Diese Frage wirft Newman ebenfalls auf, überschreitet die Grenzen der Fiktion.
Dieser Roman ist psychotisch, hypnotisch und er ist auch von einer hintergründigen Traurigkeit erfüllt. Vom Suchen nach Sinn, die/das Newman in ihrer Danksagung am Ende des Romans mit dem Tod ihres Ex-Mannes erklärt, an dessen Leben sie das ihrer Figur Ben frei angelehnt hat, auch wenn und das betont sie, die Geschichte von Ben keine Nacherzählung eines realen Lebens ist. Soweit so gut. Die Grundidee ihres Romans fasziniert mich noch immer, ebenso wie Newmans Sprache, die fein, akzentuiert und poetisch ist. Dennoch steht es unentschieden in mir nachdem ich die letzte Seite umgeblättert habe. Besonders auch wegen diesen letzten Seiten.
Eine Spur zu verworren, eine Spur zu viel Abdrift bekommt die Story mit zunehmendem Verlauf für meinen Geschmack und dieses Ende, damit komme ich zu meinem, Newmans Auflösung, hat mich dann leider so gar nicht abgeholt. Ende gut, alles gut? Sagt man zwar so. Aber doch bitte nicht nach einer solch gut aufgebauten Eskalation im Plot …
Mein Dank geht an den Verlag Matthes & Seitz für dieses Rezensionsexemplar.
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