Herzklappen von Johnson & Johnson (Valerie Fritsch)

*Rezensionsexemplar*

Karfreitag, 10.04.2020

Schmerzen. Mit ihnen sendet uns der Körper ein S.O.S. Sagt uns, das da etwas nicht stimmt. Schmerz kann ein eigenes Gedächtnis entwickeln, zu einer eigenen Krankheit werden. Uns beherrschen, Angst machen, einschränken, unser ganzes Denken einnehmen. Was aber wäre wenn, man gar nicht in der Lage wäre Schmerzen zu empfinden? Ein Traum für alle Geplagten. Ein Albtraum für alle Eltern, wenn ein Kind ohne Schmerzempfinden zur Welt kommt. Wie es schützen, wenn es nicht spürt das es dabei ist eine Grenze zu überschreiten? Wie geht man mit dem Schmerz um, der aus Schuld erwächst? Der von einem psychischen Schmerz zu einem körperlichen wird? Wie lernt man das Mensch sein, wenn dieses Empfinden fehlt? Ist Empathie dann überhaupt möglich? Spannende Fragen findet Ihr? Ich auch, und sie alle stecken in diesem mehr als bemerkenswerten Text:

Herzklappen von Johnson & Johnson (Valerie Fritsch)

Es fehlte etwas wesentliches. Dieses Gefühl ließ sich für Alma nicht abschütteln. Das Schweigen, das sich über ihre Familie legt, wenn sie versucht zu verstehen, mit Fragen zu durchdringen sucht was ihr Großvater in diesem Krieg, über den er nicht spricht erlebt hat. Als Kind war sie neugierig, als junge Frau und Mutter, die sie nun selbst ist, will sie endlich begreifen. So gräbt sie, auf dem Dachboden in Kisten und Schachteln nach Fotos, Briefen und Erklärungen und in den Erinnerungen der Großmutter, die sich ihr gegenüber auch allmählich zu öffnen beginnt und Alma muss erkennen, dass dieser Krieg ihren Großvater nicht nur verändert, sondern zu einem Menschen gemacht hat, der er nicht sein will …

Als sie endlich verstanden hatten, dass ihr Emil nichts spürte hatte er schon die ersten Verletzungen davon getragen. Alma und ihr Friedrich sorgten dafür, dass ihr Emil seine Kindheit überlebte. Mit akribischer allabendlicher Kontrolle auf Unversehrtheit. Dankbar sind sie für die Nacht, weil ihm da, in ihrem Schatten und schlafend nichts geschehen kann. Ihr verschrammtes und versehrtes, schmerzunempfindliches Kind, das alle Superhelden bewunderte, besonders die, die mit mechanischen Teilen ergänzt waren und auch Menschen mit Prothesen. So wie sein Großvater, dem man künstliche Herzklappen von der Firma Johnson & Johnson eingepflanzt hatte, damit sein innerer Motor weiter lief. Er fegte den anderen Kindern voran in seinem Superman-Umhang die Straße hinunter, bog sich die Finger auf den Handrücken und stellte sich jeder Mutprobe. Wie lehrt man ein solches Kind Mensch zu sein, wo es doch keine Verwundbarkeit kennt, fragt sich nicht nur die Autorin …

Valerie Fritsch, geboren 1989, als Photographin unterwegs in der Welt, lebt in Graz. Für ihren Debütroman Winters Garten war sie 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit ihm hat sie mich damals voll erwischt, so angepackt, dass ich ihn seit Jahren nicht aus dem Kopf kriege, diesen schmalen Roman. Kann sie das nochmal bei mir schaffen? Kann sie es vielleicht sogar toppen?

Das Blut rauscht durch ihre neue Geschichte, ohrenbetäubend und rot wie das Leben. Macht sie lebendig und sanft zugleich, so wie ihr Ausdruck es ist. Schwer zu beschreiben, unbeschreiblich schön für mich.

Wie macht sie das nur? Wie ein Strudel zieht mich mit sich in die Tiefe. In die Tiefe ihres Textes, auf den Grund ihrer Geschichte. Weil oberflächlich kann sie nicht, die Valerie Fritsch. Ihre Sprache ist eindrücklich, sie hinterlässt Abdrücke auf meiner Seele. Ihre Sprache ist umwerfend, schön und klar, mit ihr zeichnet sie Details nach. Sie hat ein Auge für die Dinge, keine Frage, und ein Herz für ihre Figuren. Die Fotografin, mit dem Blick für DAS Motiv merkt man auch ihrem Satzbau an. Ein jeder fühlt sich für mich so an, als habe sie im richtigen Moment auf den Auslöser gedrückt.

“Der Himmel so blau, dass man wünschte, man hätte in Cyanometer, um seine Farben zu vermessen. Es war eine Weite, in der man sich verlieren und dann wiederfinden wollte, leer von Menschen und Göttern, von von Sand und Stein, Wermut und Salzkraut und hohem Gras, ein Stück Erde, bei dem es einem schwerfiel, an sein Bewohntwerden zu glauben, ein Raum, so resonanzlos, dass man in der Weite keinen Nachklang des Menschen fand.”

Textztiat Valerie Fritsch Herzklappen von Johnson & Johnson, Suhrkamp Verlag

So entstehen Schnappschüsse eines Lebens, Lebenssplitter ihrer Protagonisten. Dabei lässt sie uns nicht außen vor, sie verstrickt uns, in unsere eigenen Gedanken, die sich am Text entlang spinnen lassen, wirft mich auf mich selbst zurück.

Wie schafft sie das nur? Mich so zu vereinnahmen? Es gibt tatsächlich bislang keine Autorin in meinem Lese-Erleben die das mit mir macht. Ich verehre sie dafür und verneige mich still und ergriffen vor ihrem Text. Vielleicht liegt es daran, das wir irgendwo tief drinen etwas gemeinsam haben, die Valerie Fritsch und ich.

Mit Ihrer Alma teile ich die Erinnerung an einen Großvater, der verändert aus einem Krieg kam, aus russischer Gefangenschaft. Der ihre hat zwei Zehen dort gelassen, dem meinen waren beide Füße so verfroren, das er kein Empfinden mehr darin hatte. 

Stundenlang konnte auch mein Opa Wilhelm am Fenster sitzen, welche Bilder da wohl hinter seiner Stirn vorbeigezogen sind? Mein Opa Franz, der vertrieben aus seiner Heimat eine unbändige Sehnsucht nach eben dieser hatte, die ich als Kind nie verstand. Sie rührt an mir, die Valerie Fritsch und an Bildern, die ich tief in mir schon vergessen geglaubt habe. Bei ihr bin ich wieder fünf, oder sieben oder zwölf. Renne mit nackten Beinen barfuss durch den Garten oder kitzle meinen Opa, an den Füßen, wenn er sich zum Mittagsschlaf auf die Chaiselounge in der Küche niedergelegt hat. Das schafft sie mit einem einzigen Satz, diese Bilder-und Gefühlsflut wie eine Welle in mir hochzuspülen.

Auch mir hat meine Großmutter Anna beigebracht, dass wenn das Käuzchen ruft, alsbald jemand sterben muss den man kennt und noch heute zucke ich bei seinem Ruf zusammen. 

Mit Heimaterde in der Tasche in den Krieg ziehen, fest im Glauben, das man dann wieder heimkehren dürfe. Dieser Text erzeugt Szenen und Bilder die mehr zu werden scheinen, je weiter man in ihn vordringt. So viele Sätze hat er zu geben, so viel steckt in ihnen. So viel gilt es zu entdecken, zwischen dem Gesagten und dem Ungesagten. Diese Autorin erhebt das Erzählen für mich zu einer ganz eigenen Kunst.

Es geht um Prägung, Verbundenheit und innere Unruhe, um eine Schuld, die sich über Generationen hinweg hält. Es geht um Spurensuchen, um die Suche nach Identität um eine Aufgabe, die das Leben dieser Protagonistin stellt. Wer Lust auf Sprache hat, auf Sätze die man mehrfach liest um sich daran zu freuen, der hat hier ein Buch gefunden, das alle Versprechen hält die es in dieser Hinsicht gibt. Keinen Satz möchte man verpassen, keinen überlesen, in diesem wehmütigen, in diesem wunderbaren Text.

Alma ist eine Getriebene, sie sucht ein Leben lang die Lücken zu füllen, die sie in der Biografie ihrer Familie spürt. Wie unversöhnt sie ist, mit diesem Krieg, der das Leben aller in ein Davor und ein Danach geteilt hat. Sie ist auf dem Weg, zurück in der Zeit und in den Kaukasus, sucht mit Stift, Block und feinen Linien Eindrücke einzufangen. 

Zwischen Plattenbauten und Prachtgärten hinter bröckelnden Mauern. Winkenden Hemdsärmeln auf Wäscheleinen und flatternden Hosenbeinen. Rost, verlassenen Fabrikgeländen und Geisterstädten, hellblauen Lokomotiven im hohen Gras. Brücken die mitten im Fluss ein Ende finden. Diese Landschaften und Ortschaften des Zerfalls begreifen. Fritsch beschreibt dies alles so bildhaft, das ich gemeinsam mit ihrer Heldin durch sie hindurch wandere, den Fotoapparat immer im Anschlag, unzählige Motive sammelt mein inneres Auge so mit ihr ein. Suchen heißt nicht immer auch finden, oder vielleicht doch? Am Ziel sein, heißt nicht auch bei sich ankommen, möglicherweise aber schon …

Den Weg zu meiner Besprechung von Fritschs Winters Garten nach einem Klick auf das Cover und mehr zu ihrem aktuellen bei einem Klick auf eben dieses. Gerne beide entdecken, es lohnt sich!

 

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