Götter ohne Menschen (Hari Kunzru)

*Rezensionsexemplar* 

Montag, 06.04.2020

Einsam ist es hier. Sengend heiß und trocken. Die Wüste ist ein lebensfeindlicher Ort und doch ist sie auch wunderschön, in ihrer Kargheit, mit ihrer flirrenden Hitze, die Luftspiegelungen erzeugt, die in die Irre führen, die tödlich sein können. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, so sagt man, die wir mit dem Verstand allein nicht fassen können. Was wenn Sie hier Ihre Heimat haben?

“Dans le désert, voyez-vous, il y a tout, et il n’y a rien … c’est Dieu sans les hommes.”

Sie sehen, in der Wüste gibt es alles und nichts … es ist Gott ohne Menschen.

Zitat Honoré de Balzac, aus Une passion dans le désert (1830)

Götter ohne Menschen von Hari Kunzru

Immer schon hatte er mehr geschrien als andere Babys, war nicht so einfach zu beruhigen. Die Nachbarn und die, die ihn nicht kannten, hielten sich daran auf. Seine Mutter hatte er verändert. Auch damit, dass ihn als Kleinkind alles beunruhigte was ihn aus seiner Ordnung brachte. Raj war anstrengend, Raj war besessen von Toiletten und er liebte seinen ehemals weißen Plüschhasen Bah. Der mittlerweile stand vor Dreck und von dem er kaum zu trennen war. Raj war vier. Raj war Autist. Das wussten sie jetzt, aber es half ihnen nur wenig. Wenig dabei, die Belastung, die er fraglos für ihre Ehe darstellte, klein zu halten. Ein Ausflug sollte helfen. Raus aus New York und rein in die Wüste. In die Mojave-Wüste um genau zu sein. 

Besser man nahm genug Wasser mit hierher. Zwischen dem Death-Valley und der mexikanischen Grenze gab es nicht viel. Gestrüpp, Kakteen und manchmal Knochen, weiß und von der Sonne ausgeblichen im Sand. Einsam war es hier, trotz Nationalpark und Besuchern, diese Weite, nach einer Nacht in einem schäbigen Motel und einem Streit standen sie jetzt hier. Allein zu dritt.

Nur einen einzigen Moment lang hatten sie ihn, der angeschnallt in seinem Buggy saß, aus den Augen gelassen um auf diese eigenartig geformten Felsen zuschauen. Als sie sich umdrehten, war der Gurt des Kinderwagens offen und Raj verschwunden …

Hari Kunzru, geboren 1969 in London, veröffentlichte bislang fünf Romane und gehört mit ihnen zu den wichtigsten britischen Autoren seiner Generation. 2011 ist sein Götter ohne Menschen im Original erschienen und seit wenigen Wochen liegt er jetzt auch in deutscher Übersetzung vor.

“Der Tod hing am Himmel, im knochenweißen Licht, das ihm in die Augen stach. Der Tod strömte durch den Sand unter seinen Füßen. Er konnte ihn auf der Zunge schmecken.”

Textzitat Hari Kunzru Götter ohne Menschen

Für die Ureinwohner die einst hier lebten, begann genau hier das Land der Toten und offenbar war hier bislang nicht nur ein Kind verschwunden. Erklärungsversuche zwischen Einsamkeit und Wüstenstaub. Welche Metapher könnte besser passen, für eine Leere die wir empfinden als die Wüste? Wo sich unser Blick nur festhalten kann an einzelnen Gesteinsformationen oder verdorrten Grasbüscheln. Wo Menschen aufeinander treffen, die auf der Suche sind. 

1778 – 1920 – 1947 – 1969 – 2008 – 2009

Viele Jahr, ein Ort, eine Schicksals-Gegend und Menschen die hier in ihrer Zeit erstaunliches, wundersames, erschreckendes erlebt haben.

Ein Missionar, der die Luft hier, unweit einer Quelle, die eine Siedlung erst möglich gemacht hatte, als drückend und alkalisch beschreibt. Dem genau hier ein Engel erscheint, mit dem Kopf eines Löwen …

Ein Flugzeug-Ingenieur, der müde von Krieg und Kampf, hier mit seinem Trailer landet, der der Meinung ist, die spitzen, nadelartigen Felsformationen wirkten wie eine Antenne, und der versucht mit ihrer Hilfe Kontakt zu Ausserirdischen aufzunehmen.

Militärisches Sperrgebiet, auf keiner Karte verzeichnet. Soldat spielen im Sand.

Ein Rockstar aus L.A. ist auch hier gestrandet, auf seinem Weg von A nach B, mit mehr Fragen als Antworten im Gepäck und mit reichlich Bier. 

Raj verschwindet, 2008 auch genau hier. Seine Eltern Lisa und Jaz kommen hierher zurück, 2009. Keiner von beiden ist mehr der, der er noch vor einem Jahr war.

Kunzru erzählt uns von einem autistischen Kind, dessen Verbindung zur Welt gekappt ist, das in seiner eigenen Blase lebt. Von seinen Eltern und dem Mikrokosmos ihrer Ehe, in dem sie wie gefangen wirken.

Viele von denen, nicht nur Lisa und Jaz, die nicht wissen wohin mit sich, versammelt Kunzru am Fuß dieser Felsformation. Einer von ihnen hat sich gar mit bloßen Händen eine Höhle gegraben und hauste viele Jahre unter ihr.

Es geht um Aberglaube, Propheten, Hippies, eine Ufo-Sekte, Rockstars und ganz normale Menschen, für die diese Ecke der Welt, die Wüste eindeutig nicht gemacht ist. Egal ob beim militärischen Rollenspiel, bei Hetzjagden, Hexenjagden auf vermeintliche Entführer, bei der Missionarsarbeit in einem anderen Jahrhundert. Manche der Geschichtsebenen von Kunru verbinden sich, andere nicht. Einen gemeinsamen Nenner haben sie dennoch. Diese Gegend und eine Leere, die es auszufüllen gilt … 

Presserummel und Vorverurteilung. Geglaubt wird nur das, was man glauben will. Sehen tut man nur das, was man sehen will. Was eine Schlagzeile wert ist, wird gnadenlos ausgereizt. Zwischen Wahn und Wirklichkeit. Zwischen Himmel und Erde. Die Geschichte von Lisa und Jaz nimmt eine Wendung, die mir besonders gefallen hat.

Nichts ist mehr wie es war. Nichts darf bleiben wie es ist. Es geht um Mächte, die größer sind als das, was wir mit dem Verstand allein fassen können. Es geht um Verbindungen und Bindung, um großes Unrecht und um Hoffnung. Um unerfüllte Träume, um den Umgang mit ihnen. Um Rassenunterschiede, Religion und Glaube. Um Mystik und Realitätsverlust. Um Zweifel, um Ungewöhnliches und Außergewöhnliches in diesem beeindruckenden Roman.

Was tun wir, wenn wir nicht verstehen, nicht erklären können, was passiert ist? Wir füllen diese Lücke mit Theorien, nicht selten mit Verschwörungstheorien und das lässt Hari Kunzru auch seine Figuren tun.

Nicht nur eine Frage lässt er dabei unbeantwortet. Ende offen. Für alle, die dies an einem Roman nicht mögen, wird dieser hier schwierig sein. Alle, die es so wie ich, gerne mögen, wenn nicht alles zu Ende erzählt wird, werden ihn lieben. Genau dafür und weil man den Wind der Wüste im Gesicht spüren kann, den Staub auf der Haut, während einen die kalte Hand der Angst packt …

Kunzru ist ein Autor von dem man mehr erwarten darf, als nur eine eindimensionale Kerngeschichte die sich um das Verschwinden eines Kindes dreht und vorwärts erzählt ist. Er weiß, es gibt diese Unerklärbare, was wir Menschen nicht verstehen können, und er versucht es gar nicht einzuordnen, er gibt dem mystischen Nahrung, schafft so eine Atmosphäre, die ich als beklemmend empfand. Die mich hastig durch die unterschiedlichen Erzählstränge lesen lässt, die er hier noch seitwärts entwirft, um schnell wieder zurück ins Jahr 2008 zu Lisa, Jaz und Raj zu kommen.

Kunzrus Geschichte hat diese vielen Erzählfäden, die es für uns Leser zu fassen gilt. Sie hat diese vielen Schichten. Im besten Wortsinn hat er sie in diesem Roman aufeinander geschichtet. Manche dieser Lagen sind durchscheinend und man kann auf das, was unter ihnen liegt noch einen Blick werfen. Schemenhaft erkennen, was in einer Zeit vor dieser Zeit, hier an Ort und Platz geschehen ist. Kunzrus Blick auf diese Geschehnisse beschränkt sich dabei aber nicht allein auf die spektakuläre Örtlichkeit an der sie sich ereignen, auf die Rahmenbedingungen, er versteht es seiner Geschichte eine Tiefe zu geben, die ich mit Worten nicht greifen kann, aber spüren … Unheimlich ist mir zumute, wie zwischen wachen und träumen. Alles bleibt anders, nichts ist gewiss, wie könnte es auch anders sein …

“Jeder Moment ist ein Bardo, der irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft hängt. Wir befinden uns ständig im Übergang, von einem Zustand zum nächsten.”

Textzitat Hari Kunzru Götter ohne Menschen
Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    7. April 2020

    Das freut mich Dorothee. Dein Lieblings-Buchdealer kann sich glücklich schätzen eine solch loyale Kundin wie Dich sein eigen zu nennen! LG Petra

  2. Dorothee
    6. April 2020

    Das klingt wiedermal SEHR interessant! Den Roman werde ich mir nächsten Monat kaufen!
    Ich unterstütze meine Stammbuchhandlung nämlich im Moment, indem ich jeden Monat konsequent 3 Bücher dort kaufe…die werden mir im Moment sogar nach Hause gebracht, weil der Buchladen natürlich geschlossen bleiben muss!
    Ich hoffe, dass alle “Bücherverrückten” das genauso machen und NICHT bei dem Online-Handel mit dem großen “A” bestellen…

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