Eisfuchs (Tanya Tagaq)

*Rezensionsexemplar* 

Mittwoch, 25.03.2020

So nah wie hier war ich der Arktis noch nie. 2017 führte mich eine Reise nach Spitzbergen/Norwegen. Kaum zu glauben, dass das jetzt schon fast drei Jahre her ist. Zum ersten Mal betrat ich das Reich der Mitternachtssonne und spürte eine Energie, die bis weit in die Nacht hinein ausreichte. Wie es sich angefühlte, als die Tage ihr Licht nicht mehr verloren, werde ich nie wieder vergessen und mein Traum einmal im arktischen Winter tanzende Polarlichter am Himmel zu sehen, ist hoffentlich noch nicht ausgeträumt, wird sich vielleicht, mit ein klein wenig Glück noch verwirklichen lassen. Bis es soweit ist, beschenke ich mich mit Geschichten, die mich in die Welt des Permafrostes entführen und mir von diesen Lichtern, den Menschen die dort leben und von grandioser Natur erzählen, eine so wie diese hier, die und jetzt greife ich vor, das Prädikat “atemberaubend außergewöhnlich” verdient …

“Atme kleine Ängste ein daraus werden Zweifel werden Worte wird Meinung wird Wut wird Hass wird Gewalt.

Atme große Ängste und große Worte aus sie fallen auf dich zurück wie leicht wird man unter den eigenen Spiegeln begraben.

Atme kleine Ängste ein sie flüstern und kriechen in deinen Kopf achte sie und danke ihnen dass sie dich schützen wollen.”

Textzitat Tanya Tagaq Eisfuchs

Eisfuchs von Tana Tagaq

Ein halbes Jahr lang waren sie während des arktischen Winters im Haus eingesperrt gewesen. Jetzt tollten sie durch den Ort wie ein Rudel wilder Hunde. Am Ufer eines Sees, den wohl das Schmelzwasser hatte entstehen lassen, stoppten sie. Blaue Styroporplatten lagen herum. Der Wind musste sie von einer Baustelle bis hierher geweht haben. Die Wassertemperatur nahe am Gefrierpunkt, keiner von ihnen konnte schwimmen. Wie ein Floss konnte man diese Platten verwenden, was sollte schon passieren? Sie schnappten danach und paddelten los. Den kleinsten von ihnen trieb es am weitesten ab und eine Böe brachte seinen vermeintlich sicheren Halt ins Schwanken …

Tanya Tagaq, geboren am 5. Mai 1975, wurde international bekannt durch ihre Zusammenarbeit mit der Sängerin Björk. Sie ist eine Inuit-Halssängerin, für diesen besondern Folk bekannt und für ihre Alben ausgezeichnet worden. Vielseitig begabt ist sie, und man ehrte sie auch für ihr Albumdesign. Mit allzu vielen kanadischen Autoren/innen war ich bislang noch nicht auf “Textfühlung”, höchste Eisenbahn also das zu ändern. Oder? Und warum dann nicht gleich mit einer ganz besonderen.

Namenlos lässt Tagaq ihre Protagonistin und sie lässt sie in einer Welt agieren, von der man annehmen darf, sie selbst kennt sie sehr gut. Mit Andeutungen, Träumen und Zwischentönen gewährt sie uns tiefe Einblicke in die Seele ihrer jugendlichen Heldin. Dafür nutzt sie eigene Tagebucheinträge, Gedichte und Kurzgeschichten, die sie in den letzten 20 Jahren geschrieben hat und entführt uns nach Cambridge Bay, dem heutigen Nunavut, wo sie selbst geboren wurde, ins Jahr 1970.

Was habe ich von diesem Roman erwartet? Jede Menge Natur auf jeden Fall. Die Schilderung eines Lebens, dass einfach ist und so ganz anders als ich es kenne. Worte die all das fassen können, es fassbar, begreifbar machen.

Was habe ich gefunden? Keine fortlaufende Geschichte, sondern eine Sammlung von erzählerischen Fragmenten, die sich zusammenfügen wie Schneeflocken zu einem geschlossenen Teppich.

Bewundernd habe ich dieses schneeweiße Buch nach dem Erhalt in den Händen gedreht. Seine schlichte Optik mit dem blutroten Seitenschnitt und seine Haptik hatten es mir sofort angetan. Mein erster Eindruck und seine Anmutung, wirkten wie ein Versprechen. Das Versprechen eines ganz besonderen Inhaltes und ich habe mich nicht getäuscht. Wunderschön und passend ist es illustriert von Jaime Hernandez, jedes Kapitel wird mit einem Prosastück eingeleitet.  

Die Sprache klar, wie ein Tag in arktischer Kälte. Die Sätze flirren, besonders diese lyrischen Kapitel-Einleitungen, wie das Nordlicht am Nachthimmel. Sie irrlichtern in mir, auch dann wenn ich das Buch längst wieder zugeschlagen habe. Die Gedanken der Hauptfigur, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht und über sie hinausschaut, auf das was zu erwarten ist, jenseits ihrer Kindheit, treiben mich um. Seltsam entrückt ist sie, gleichzeitig aber auch gegenwärtig. Und mehr als das lässt sie mich fühlen, was es heißt tief verwurzelt zu sein in Herkunft und Natur.

Tagaq erzählt von Kältefrei bei minus 50 Grad, von Langeweile, Permafrost, Mißbrauch, vom Butangas schnüffeln, von Alkohol, Joints, häuslicher und anderer Gewalt. Aufzeigen will sie, wie die Menschen in dieser kleinen Gemeinschaft am Rande Kanadas, 39.000 Einwohner umfassend, leben. Sie wird politisch, will es aber nicht sein, mit ihrem Engagement für die verschwundenen und ermordeten indigenen Mädchen und Frauen Kanadas, für die Überlebenden der Residential Schools, denen Sie ihr Buch auch gewidmet hat. Ähnlich katholischer Schulen, in denen der körperliche Missbrauch von Schutzbefohlenen zum Alltag gehörte, erzog man bis 1996 in Internaten First-Nations, Métis und Inuit-Kinder um. Mit einem im Jahr 2005 in Leben gerufenen Entschädigungsprogramm entschuldigte sich Kanada. Festzuhalten bleibt, dass in den Jahren zwischen 1980 und 2012 1.017 Mordfälle bestätigt wurden, die man erst 2019 als “race-based genocide of indigenous peoples” eingestuft hat.

Für mich ist Eisfuchs neben dem Milchmann von Anna Burns, das zweite Buch in diesem Jahr, das mich extrem gefordert hat. Mit seiner Abdrift in Traumwelten ist es nicht nur anders, es ist besonders. Zärtlich, lyrisch, poetisch aber auch grausam und anstrengend.

Unvertraut und wie ein bizarrer Lockruf tauchen Naturgeister und Sagengestalten auf, mischen sich in die Handlung. Ich erfahre vom Animismus, vom Glauben der Beseeltheit aller Natur, kein Wunder das diese Überzeugung mit der anglikanischen Lehre nicht vereinbar war und ist.

Eisfuchs ist ein Buch, das einem nicht nur einfach so gefällt. Es ist kein Buch in dem man sich wohlfühlt. Es ist eines, das es faustdick zwischen den Deckeln hat. Anders ist es, ganz anders als ich es erwartet hatte. Fragmentarisch, rotzig, frech und eine Wucht entfaltend, das ich mich ducke. Eines das man nicht so schnell vergisst und wer gegen das Vergessen arbeitet, seine Stimme erhebt, für die, die leise geworden sind, die man mundtot gemacht hat mit Taten, deren Wunden nie wieder ganz verheilen werden, dem zolle ich Respekt. Viel von ihr selbst scheint in dieser Geschichte zu stecken, auch wenn sie nicht ihrer Hauptfigur entspricht. 

Und wer ihre Musik kennt, versteht ihren Text besser. Hören wollte ich, wie Tanya Tagaqs Stimme klingt und was das ist, dieser Inuit-Hals-, dieser Kehlkopfgesang. Mich hat er still gemacht, mit seiner Mischung aus murren, knurren und Tierlauten. Flüsternde Fremdheit, wispernde Vertrautheit, sanft, schrill, hypnotisch, hohe spitze Töne und sphärische Klänge wechseln sich ab und verschmelzen. Ihre Musik kann ängstigen und verstören, beruhigen und auf eine Reise mitnehmen, über das Eis und in die Ferne, tief hinein in das Herz der Arktis. Mystisch, verbunden sind im Göttlichen Natur, Mensch und Tier. Ihre Sätze im Eisfuchs klingen in mir wie ein Lied mit verstummter Melodie. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen kann eine Ausnahme-Autorin entdecken, eine Ausnahme-Frau, die eine Form gefunden hat auszudrücken was sie umtreibt, die es so kein zweites Mal mehr gibt ….

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