Ein Lied für die Vermissten (Pierre Jarawan)

Ein bebrillter Bücherwurm. Gestrickt aus Wolle. Ruckelnde Wagons einer Einschienenbahn, die sich durch eine Bücherei schlängeln. Szenen aus Büchern, die filmisch zum Leben erwachen. Mit ihren Figuren konnte man Zwiesprache halten, mit ihnen diskutieren, ihnen Fragen stellen. Wer von Euch kennt so noch die Sendung Lemmi und die Schmöker?

Mir war sie ein heißgeliebter Begleiter und gerade eben war mir so, als säße ich wieder im Schneidersitz auf dem Teppich vor unserem Fernseher, gebannt wartend wie diese Geschichte hier weiter geht. Ein begnadeter Geschichtenerzähler erhebt seine Stimme und mir war so, als würde sich vor mir ein Vorhang aus Licht teilen, damit sich vor mir eine ganze Welt auftun kann. Ich schaue auf eine Stadt, die vor einem Regen aus Schutt und Staub strahlend schön gewesen sein muss. Beirut. Das Paris des Nahen Ostens. Das Beirut vor dem Krieg. Eine flirrende, eine bunte, eine gemischte Stadt:

Yeki Bud. Yeki Nabud. Die besten, die ältesten Geschichten der Welt beginnen seit jeher auf diese Weise: Es war so. Und es war nicht so. Ein einzelner persischer Satz aus einer ganzen Schatzkiste persischer Sätze, aber dieser ist das Fundament. Die Triebfeder jedes Geschichtenerzählers. Der Beginn jedes Märchens.”

Zitat Pierre Jarawan Ein Lied für die Vermissten

Ein Lied für die Vermissten von Pierre Jarawan

Nur mit Jafar war es anders. Er war ihm ein Freund. Allen anderen blieb er fremd. Hatte er doch die Zeit, in der ihre Welt hier in Trümmer gelegt worden war, in der sie viele ihre Lieben verloren hatten, in der sie tags und nachts Angst um ihr Leben hatten haben müssen, im fernen, friedlichen, reichen Deutschland verbracht. Er konnte ihre Furcht nicht verstehen und sie nicht diese Fremdheit die er spürte.

In Deutschland war seine Großmutter ein Schatten gewesen. Hatte ein Leben am Rand geführt. Hier, jetzt, blühte SIE auf, sie malte wieder, eröffnete ein Café. Jetzt stand er,  Amin, am Rand. Wie ein Zuschauer im eigenen Leben.

Wenn ein Sandkorn genügt, wie Jarawan sagt, um eine große Geschichte zu erfinden, die dort beginnt wo man einen Wendepunkt erlebt, dann hat er hier seines gefunden, sein Sandkorn, und er erzählt sie, seine Geschichte, mit schönen, mit runden, mit weichen Sätzen. Die anschmiegsam sind für mein Ohr. Die eine Leuchtkraft, eine Strahlkraft besitzen, die mich staunen macht, aber auch traurig und nachdenklich. 

Er erzählt eine fiktive Geschichte, die in einer realen Vergangenheit verwurzelt ist, von Tagen die gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit weisen. Er lässt sie im Jahr 2006 beginnen, erneut erschüttern Kämpfe den Libanon, die Heimat von Amins Großeltern. Nach einem Bombenregen auf Beirut erreicht ihn die Nachricht vom Tod seiner Großmutter, die ihn aufgezogen und mit mit der er gebrochen hatte. Einer Lüge wegen.

Seiner lebensklugen Großmutter, die ihm ein Wegweiser gewesen war, begegnen wir fortan in seinen Erinnerungen und Gedanken. Er führt uns mit ihnen, wie auf einem Leitstrahl als Ich-Erzähler zurück in der Zeit. Amins Eltern waren bei einem Autounfall gestorben, da war er noch so klein, das ihm jegliche Erinnerung an sie fehlt. Um den Wirren eines nahenden Bürgerkrieges zu entkommen floh seine Großmutter damals mit ihm nach Deutschland um dreizehn Jahre später wieder zurück zu kehren in ihre Heimat, den Libanon.

“Es gibt das Erzählen und es gibt das Schweigen, und es gibt das Fragen dazwischen. Was war mit dem Misstrauen? Doch das stimmt nicht. Die Wüste ist überall, und in ihr gibt es kein Erinnern, das sich in Sprache fassen lässt. Keine Sprache für das Erinnerte. Das Schweigen nachdem Du fragst ist tiefer als Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt. Selbst im kleinsten Raum bleiben das Ticken einer Uhr, oder das Brummen des Kühlschranks.”

Zitat Pierre Jarawan Ein Lied für die Vermissten

Ein erster Sommer in Beirut, eine Rückkehr in ein Land, in dem man nie Zuhause gewesen ist. Streifzüge durch verlassene, zerbombte Häuser, mit dem Blick auf Leerstellen, die wie vernarbte Wunden in die Straßen geschlagen sind. 

Das erste eigene Geld verdienen. Einen Job im Nationalmuseum antreten, mit dreizehn und zwei Pausenbroten in der Tasche. Hier gab es Männer, die aus Schutt und Scherben lesen konnten, sie verhalfen der Vergangenheit dazu sich wie eine Königin zu erheben. Siebzehntausend Bücher waren hier nach der Explosion einer Granate verbrannt, jetzt es galt ihre  Reste und die Asche zusammenzufegen im großen Bibliothekssaal, in dem noch Regale standen, die die Hitze grotesk verformt hatte. Verlorene Schätze und ein Mann in den Schatten, der sie einst gehütet hatte. Ein Geschichtenerzähler, der Amin tief beeindruckt und inspiriert. Er macht, das sich die Geschichten wieder aus der Asche erheben.

Jarawan zeichnet sprachlich Bilder, die man nicht wieder vergisst. Seine Vermissten nisten sich ein in den Herzen derer die sie kannten. Sein Wortschatz ist reich, seine Sätze fließen wie Pinselstriche. Auf seiner Textleinwand fügen sich die Wörter zu sanft geschwungenen Sätzen. So als würden sie tanzen, zu einer Melodie die nur er hört. Ich lausche, kann sie auch spüren, sie vibriert in mir, wärmt mich. 

Es müsste verboten werden, dieses Hörbuch und das Buch gleich mit. Eigentlich. Weil, darf man sooo schön erzählen? Und wie soll man das bitte rezensieren?

Pierre Jarawan, wurde 1985 in Amman, Jordanien geboren, nachdem sein libanesischer Vater und seine Mutter den Libanon des Bürgerkrieges wegen verlassen hatten. Diese ungekürzte Hörbuch-Fassung hat er selbst eingelesen. Und wer, wenn nicht er, sollte das als Autor auch selbst tun. Der Bühnenliterat wurde 2012 in Paris ausgezeichnet als internationaler Meister des deutschsprachigen Poetry-Slam.

Die Grund-Wehmut, die vom ersten Satz an seinen Text durchweht, hat mich sofort für sich eingenommen. Seine Stimme wirkt wie verschattet bei den Streifzügen durch Trümmer und Furcht. Und Jarawan schafft es auch, dass einen diesen Geschichte trotz aller Dramatik nicht erdrückt. Er vermag ihr eine Leichtigkeit mit zu geben, die mich stilistisch sehr beeindruckt hat. Das WIE er seinen eigenen Text mit seiner Stimme umarmt, hat diese Geschichte für mich zu einem Hör-Highlight gemacht. Das und seine Geschichte, die süß ist wie eine reife Aprikose, oder wie eine Dattel. Die bitter ist wie Wermut und traurig. Die mir von einer Kultur erzählt, die mir fremd ist.

“Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern, Amin … In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können und oben wohnen immer die Mörder.”

Zitat Pierre Jarawan Ein Lied für die Vermissten

Ich erfahre von Klöstern, die zu Schutzräumen für Frauen werden, denen in ihrer Familie der Ehre wegen Gewalt angetan wurde. Von einem Turm, der Menschen frisst. Nur wenige die hinein gehen, kommen wieder heraus und diejenigen, die ihn wieder verlassen, haben keine Worte mehr für das, was in seinem Inneren passiert ist. Massaker, Milizen und Lastwagen beladen mit Körpern. 

An das Vermissen musste man sich gewöhnen. Status staatenlos. Über die Vermissten kann man Lieder singen, aber über sie sprechen in ihren Familien kann man nicht. Sie sind tot, viele von Ihnen, wahrscheinlich und man hat zu schweigen. Hat sie totzuschweigen. 

Raupenzüchter, Seidenraupen und Maulbeerbäume. Über politische Hintergründe, den Einfluss Syriens und den mächtiger Familien lässt sich hier wie nebenbei lernen. Eine Gesichte von Entfremdung, von einem Schweigen, von Leugnung, die mich betroffen gemacht haben. 

Zahlreiche Textstellen hätte ich zitieren mögen, eine schöner als die andere. Nachdenklich beginnt Amin als Erwachsener Informationen zu selektieren, Antworten auf seine Fragen einzusammeln und ich erfahre wie sehr man am Ende dieser Kriege vergessen wollte. Erfahre von Kindersoldaten, wo man sie auffing und anfing ihnen ein mittelalterliche Ideologie einzupflanzen, für die das Töten wie das Atmen dazugehörte …

Kann Schweigen auch Geborgenheit bedeuten? Ich stutze. Ja, vielleicht. Für mich aber nur dann, wenn Einvernehmen herrscht über das was man beschweigt, wenn kein Verdrängen dahinter steht. 

Mehr Libanesen leben mittlerweile im Ausland als Zuhause, sagt eine der Figuren. Von 1975 – 1990 dauerte der Libanesische Bürgerkrieg, der in nackten Zahlen ausgedrückt,  90.000 Tote, 115.000 Verletzte, 800.000 Flüchtende und unzählige Vermisste forderte. Aus unterschiedlichen Quellen stammen die Zahlen der Vermissten, mal liest man von siebzehntausend, dann von zwanzigtausend. 

Massengräber, die man nicht mehr öffnet, um nur keinen erneuten Konflikt heraufzubeschwören. 1982 begannen hunderte von Frauen mit den Fotos Verschwundener in den Straßen zu demonstrieren. “Es reicht! Unsere Würde ist nicht mehr verhandelbar!” Mich weht ein kalter Hauch an. Bis zum Erscheinen seines Romans 2019, so Jarawan in seinem Nachwort, hat die Kommission, die die Suche nach den Vermissten aufnehmen sollte, noch immer nicht mit der Arbeit begonnen …

Jemand war dort. Und jemand war nicht dort. Es gab einmal eine Zeit, und es gab keine Zeit.”

Zitat Pierre Jarawan Ein Lied für die Vermissten

Mein Dank geht an Steinbach sprechende Bücher/SAGA Egmont für dieses Rezensionsexemplar.

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