Sonntag, 28.07.2019
Sommer. Das ist bei uns die Zeit, in der die Felder goldgelb leuchten. Der Weizen sich in Wellen wiegt sich, vom Wind gestreichelt. Seine Ähren schimmern seidig in der Sonne. Nahezu jeder hat jetzt Pläne für die Ferien, Viele brechen in den Süden auf, wir Daheimgebliebenen verfolgen ihre Posts bei Facebook und Instagram mit Sehnsucht im Herzen. Die Kleinen träumen von Eis satt und Sandburgen. Die Großen von Beach-Partys und neuen Freunden. Die Eltern vom Ausschlafen und langen Spaziergängen am Strand, vom Zeit haben für einander. Es herrscht eine Unbeschwertheit wie sie nur der Sommer kennt.
Meine nächsten Ferien sind noch weit. Schmerzendes Fernweh hat aber auch mich gepackt, nach “meiner” Provence, es und sie lockten mich in diese Geschichte und ich folgte dem Versprechen auf eine kühle, schäumende Gicht nach Méjan und fand ein Geheimnis …
Ein letzter Sommer in Méjean (Cay Rademacher)
“Arroganz ist eine gefährliche Schwäche, weil sie lange nachwirkt”. (Textzitat)
Süchtig nach Politk. Mit ihren achtundvierzig Jahren war Claudia Bornheim jetzt seit sechs Jahren Ministerin, war jüngste Landtagsabgeordnete gewesen, jüngste Staatssekretärin, jüngste Landesministerin. Pflichtbewusst hatte sie da eine wahre Rekordjagd im politischen Getriebe hingelegt – und gewonnen. Der Preis für ihren Erfolg war ein Leben ohne Familie, ohne Kinder und außerhalb ihres beruflichen Kreises konnte sie auf keine Freunde mehr zurückgreifen. Auf dem Flur rannte sie schon mal , die Nase tief in eine Akte vergraben, gegen eine Glastür, im Stillen hoffend, dass das niemand gefilmt und auf youtube gestellt hatte. Als sie heute Hals über Kopf alles fallen um nach Südfrankreich zu fliegen, das Rückreisedatum sogar offen ließ, da war nicht nur ihre persönliche Referentin von den Socken …
In Méjean angekommen wird sie auf Dorothea treffen, neunundvierzig, Sportlehrerin an einem Gymnasium, und auf ihren Mann, den etwas drögen, gescheiterten Archäologen und Althistoriker Oliver Katschmarek, Spitzname “Der Professor.” Er sieht seine Frau, wenn überhaupt, immer nur durch die Seiten eines klassischen Wälzers hindurch. Buchstabenverhangen ist sein Blick. Und auf Babs. Barabara Möller, Bankangestellte, Familientier, rundlich und herzlich, die gute Seele ihrer coolen Clique war sie stets gewesen – und auf Rüdiger von Schwarzenburg, Künstler, Maler und Villenbesitzer. Er hatte es geschafft, finanziell gesehen zumindest. Lebte das Leben was ihm wohl damals schon vorbestimmt gewesen war.
Damals. – Alle fünf haben eins gemein, sie haben wie Claudia ihr derzeitiges Leben Hals über Kopf verlassen. Eine Briefserie, war eingeschlagen wie ein Blitz aus heiterem Himmel in ihre Reihenhaussiedlungen, in ihre wohlgeordneten Leben. Dreißig Jahre her und kein bisschen vergessen. Vergangenes sollte vergangen bleiben oder, wer den Löwen weckt, sollte ihn auch beherrschen können und nicht schreiend vor ihm davon laufen.
Mit den fünf reisen wir zurück ins Jahr 1984 – Michael Schiller, Klassenbester und Architektensohn, charismatisch, ein Charmeur, hatte fünf Freunde und Freundinnen nach bestandenem Abi hierher eingeladen, in das Ferienhaus seiner Eltern, nach Méjean, für zwei Wochen. Letzte Ferien vor dem Einstieg ins Berufsleben oder ins Studium sollten es werden. Einer von ihnen aber sollte Méjean und diesen Sommer nicht lebend verlassen …
Cay Rademacher, geb. 1965 hat in Köln und Washington Geschichte und Philosophie studiert, er schreibt für GEO, begeistert sich für Kulturen und ihre Geschichten, lässt sein Recherche-Wissen in ausgezeichnete Krimis münden. Diese Vita klang vielversprechend und so hab ich mich mit ihm in dieses Boot gesetzt, in der sanften Dünung an der Cote Bleu in der Nähe von Marseille. Ich fühlte mich bisweilen erinnert an Agatha Christies “Das Böse unter der Sonne”. Alle mauern, keiner hat ewas gesehen und gemacht hat sowieso niemand eh nix. Commissaire Rennard hat mit Hercule Poirot schon rein äußerlich wenig gemein, aber auch ihn setzt man an auf eine Schnitzeljagd, ein Hinweis ergibt den nächsten Hinweis.
Und es hat, das kapieren wir schnell, Motive soweit das Auge reicht. Klassisch stellt Rademacher uns reihum seine Protagonisten vor, wie beim Vorsprechen auf der Theaterbühne. Ein bunt gemischter Haufen ist sie diese Schicksalsgemeinschaft, die in ihrer Studienzeit ein Geheimnis vergraben hat. Nichts ist je vergessen, das müssen auch diese Meister des Verdrängens lernen. Wegbegleiter von damals lernen wir kennen, wandeln auf frischen Spuren. Hier darf mal als Leser methodisch mit ermitteln während man einen Sommer unter südlicher Sonne und vor malerischer Kulisse genießt. Unterhaltsam, léger und gut konstruiert …
Wer ist dieser Briefschreiber, der so unfassbar gut informiert scheint? Wie Marionetten bespielte er ihre Fäden, widerspruchslos waren sie alle angetanzt. Würden sie jetzt auch nach seiner Pfeife tanzen?
Grabesstille zwischen Gesprächsfetzen. Eine Terrasse mit Blick aufs Meer, ein Wiedersehen nach einem Drittel-Jahrhundert. Wie in einer Zeitschleife gefangen, so wenig hatte sich hier verändert. Erinnerungen an JENE Nacht geistern durch ihre Tage und ihre Nächte.
Eifersucht mit oder ohne Grund. Tauchgänge und Unterwasserbegegnungen mit Delphinen. Auf Küstenwanderwegen unterwegs sein, auf dem Meer zugewandten Sitzplätzen Sommerabende genießen, mit frischem Baquette, Käse und einem gutem Rotwein.
Savoir vivre trifft auf hartnäckige Ermittlungen. Reihum erzählen Sie, die fünf, von jenem Tag vor drei Jahrzehnten. Ein jeder aus seiner Sicht.
Das Wasser war schon immer tief hier, die Strömungen tückisch, die Buchten felsig und es hat genug Steine, die sich als Mordwaffe eignen. Argwohn und Ablehnung. Es ist heiß hier, um neun Uhr früh hat es schon fünfunddreißig Grad. Unser Commissaire kämpft bei diesen Temperaturen mit seiner Kondition. Seine Fragen bleiben trotzdem für alle unausweichlich. Bei Verhören an abgelegenen Stränden und trotz kristallklarem Wasser fischt er im Trüben.
Kommissar Rennard gibt eine sympatische Figur ab. Von einer Krankheit noch gezeichnet staubt der höfliche Mann, mit den traurigen dunklen Augen, besonders bei den Damen die er verhört einen Mitleidsbonus ab. Sie beginnen zu plaudern und erzählen ihm mehr als sie ursprünglich wollten, kriechen ihm so auf den Leim. Offensichtliche Nachteile in Vorteile ummünzen. Das muss er erst noch verinnerlichen der gute Rennard nach seinen persönlichen Krisen. An seine alte Kraft und Stärke ist er noch gewöhnt und er vermisst sie.
Von Strebern, stolzen Eltern, Abiturfeiern, von Prägung und Erziehung. Von dem Neid auf diejenigen, denen immer alles in den Schoß fällt. Gutes Aussehen, gute Noten, Geld. Von Kränkungen, die noch immer nachwirken. All dies baut Rademacher unterhaltsam ein.
Eine erzwungene Zusammenkunft. Für unseren Commissaire ist dieser Cold Case ein Abstellgleis. Er hatte in Marseille zu den erfolgreichsten Drogenfahndern gehört und jetzt versetzte ihn sein Chef in dieses Fischerdorf. Motivation sieht anders aus, Wertschätzung auch.
Schmugglerpfade schlängeln sich an steilen Felsen entlang der Küste. Zikaden lärmen wütend nicht nur in der Nacht. Anker erden, aber an jedem Anker zieht auch ein Schiff. Was hatte die Clique von einst auseinander getrieben? Ihre Unterschiedlichkeit? Eine gemeinsame Schuld, die nagte und schwer wog?
Ein feiges Attentat, Todesmut und eine Rettung in letzter Minute wird bildhaft und szenisch spannend von Rademacher mit Worten illustriert. Das Unterbewußtsein weiß es schon lange, wirklich übles drängt hier an’s Licht. Blitzendes Leuchtfeuer und dann – Dunkelheit …
Oliver Siebeck, hatte mich in meinem letzten Hörbuch bereits als Klavierlehrer Pierre sicher durch Paris gelotst, in Frankreich muss er sich also auskennen, warum mich ihm nicht jetzt erneut anvertrauen? Um es kurz zu machen: Es war auch diesmal eine tolle “Ohrenreise” mit ihm. Die sonore Tiefe seiner Stimme ist auch hier Genuss pur.
Umwege, Neuanfänge und Psychodramen plaudert er uns mühelos daher. Leben wie Gott in Frankreich, das kann man hier zwischen Siebecks und Rademachers Silben genüsslich tun, also Ihr Daheimgebliebenen – ab nach Méjean …
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