*Rezensionsexemplar*
Donnerstag, 01.08.2019
Es gluckst unter meinen Füßen, eine dünne Eiskruste hat die Gräser des Moors überzogen. Bizarre Muster sind durch den frühen Frost entstanden, er hat den Tau auf den Halmen zu Perlen erstarren lassen, manche schimmern glasklar, andere sind eher milchig trüb. Nebelschleier winden sich durch das Unterholz, ein Vogelruf schreckt mich aus meinen Gedanken auf. Ich komme gern hierher, besonders in dieser Jahreszeit, weil sich dann immer weniger Spaziergänger hierher verirren, in diese Landschaft, die wirkt wie aus der Zeit gefallen. Hier kann man gut alleine sein, abrücken von dem Trubel in der Welt da draußen, abrücken so wie sie, die scheue Heldin dieser brandneuen Geschichte …
“Ein Sumpf weiß alles über den Tod und versteht ihn nicht notwendigerweise als Tragödie, und sicherlich nicht als Sünde”. (Textzitat)
Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens
1952. Barkley Cove, North Carolina. Mit ihrem langen braunen Rock, den guten Schuhen und dem blauen Koffer in der Hand war ihre Mutter an diesem Morgen im August gegangen. Ohne Ankündigung und ohne Abschied, aber mit einem Bluterguß, der unter ihrem Kopftuch herausschaute. Still war sie gewesen, sehr still. Kya Clark war an diesem Tag gerade mal sechs Jahre alt, das jüngste von fünf Kindern, als ihre Mutter aus ihrem Leben verschwand wie ein Trugbild. Liebevoll war sie gewesen, ihre Ma, auch wenn sie ihrer Kleinsten bereits zahlreiche häusliche Pflichten übertragen hatte.
Noch in der gleichen Woche verschwanden Kyas Bruder und die beiden älteren Schwestern. Auf das Verschwinden ihres Bruders Jodie, des letzten Geschwisterkindes, folgte ein Sommer, in dem Kya den sonst nach billigem Fusel stinkenden Vater, den sie entweder stumm oder brüllend erlebte, nicht mehr wieder erkannte. Er nahm sie zum Angeln mit, brachte ihr bei was man über die Marsch, in der sie lebten, wissen musste. Erzählte ihr von früher, von der Zeit, in der er noch Geld gehabt hatte …
Ein Hauch von Familiengefühl wehte durch das Watt, bis zu dem Tag, an dem der Brief mit der Handschrift der Mutter auf dem Umschlag im Briefkasten lag. Ein Lebenszeichen, das ihren Vater aber wieder in den Alkohol und aus dem Haus trieb und auch er ging um nicht wiederzukommen …
1969. North Carolina, im Marschland. Es war still hier, dunkel und einsam, und es war der 30. Oktober als zwei Jungs bei einer Fahrrad-Tour die Leiche von Chase Andrews fanden. Eine Schuldige ist schnell ausgemacht. Seit Jahren schon lebte sie allein hier, mit so einer konnte ja wohl was nicht stimmen. Einen Belastungszeugen hatte man auch praktischer Weise zur Hand, ein Krabbenfischer wollte ihr Boot am fraglichen Tag unbeleuchet und zweifelsfrei in der Lagune erkannt haben, ihre schlanke, hoch aufragende Gestalt darin inbegriffen …
Viel zu früh erwachsen werden, wo Berührungen und soziale Kontakte fehlen verkümmert ein Herz. Die Seevögel des Marschlandes werden zu Ersatz-Gefährten und ihre Federn zu kostbaren Schätzen.
Sein Auskommen bestreiten mit dem Sammeln von Austern, dem Fangen und Räuchern von Fischen. Wir schauen auf dieses Leben und sind erschrocken. Wie kann das angehen, dass sich hier niemand stört und kümmert? Sie war doch erst sechs Jahre alt! Unsere Heldin empfindet das gar nicht als negativ und genau dadurch wächst sie mir ans Herz. Beinahe wie ein Wolfskind ist sie, wild und frei, sanftmütig und klug.
Das Lesen und Rechnen in einem Sommer lernen, von Tate einem Nachbarjungen, der ein paar Jahre älter war, mit seinem Vater allein lebte. Kya war jetzt fünfzehn.
Allen Schwüren zum Trotz, kam aber auch Tate nicht wieder. Er wollte studieren, sie besuchen und blieb doch fort, ein Jahr, zwei Jahre, drei, vier, fünf … Was nutzte all der Mumm sich immer wieder aufzurappeln? Das Ergebnis war immer das Gleiche – sie blieb allein …
Warum sollten die Verletzten, die noch immer Blutenden, die Bürde des Verzeihens tragen?” (Textzitat)
Möwenschwärme, Stürme, Männer in gelbem Ölzeug irrlichtern im Grau.
1970. Man macht ihr den Prozeß, packt sie zwei Monate in Untersuchungshaft und wir erleben als Leser, respektive Hörer, dieses Gerichtsdrama live mit. Erfahren von Vorverurteilungen, Gerüchten und von den Anstrengungen zu jemand gehören zu wollen. Eine ganze Stadt hält den Atem an, wartet mit feuchten Händen auf das Urteil, man könnte eine Stecknadel fallen hören …
Delia Owens, ist in Georgia geboren, mehr als zwanzig Jahre arbeitete sie als Zoologin, war in Afrika unterwegs, erforschte Wildtiere. Mit dem hautnahen Erleben der Natur kennt sie sich aus und das spürt man hier, bis in die letzte Faser. Sie lebt heute in North Carolina, wo sie auch ihren Debütroman verortet, der eine prominente Fürsprecherin gefunden hat, Reese Witherspoon. Die Schauspielerin kürte auf ihrem Buchclub Owens Roman nach dem Erscheinen zum Buch des Monats. Über elf Monate hielt er sich, davon die Hälfte der Zeit auf Platz 1, auf der Bestenliste der New York Times, mehr als drei Millionen mal wurde er allein in den USA verkauft, was ist dran an dieser Geschichte?
Viel Natur und eine Beschreibung der derselben, die mir eine Gänsehaut machte. Poetisch beschreibt die Autorin die Schönheit einer Landschaft, die sich auf den Verfall gründet. Zerfall und Verwesung erschaffen hier neues Leben. Der beständige, humusschaffende Kreislauf der Natur, der in seiner Absolutheit auf uns Menschlein furchteinflössend wirkt. Das Übersetzer-Team Wasel/Timmermann hat hier ganze Arbeit geleistet und Owens Sätze einfühlsam ins Deutsche übertragen.
Stark und szenisch führt Owens mich durch die Handlung. Das Marschland mit seinen Vögeln, in seiner Abgeschiedenheit, erwacht vor meinem geistigen Auge zum Leben, satt und prall ausgestattet. Sie nimmt mich mit in feuchte Wälder, wir schippern auf dicht überwachsenen Flussarmen, wo Libellen tanzen und Silberreiher, zu einer Lagune, in der Kyas Hütte steht.
Owens Liebe zur Natur, für diese Ur-Landschaft, wo Wind und Gezeiten das Regiment führen, nimmt man ihr sofort ab, sie steckt in jedem Wort, sie ist unüberhörbar.
Ihre Protagonistin lässt sie hier groß werden, in einer Zeit und an einem Ort, der die Religion ernst nimmt. Lässt sie Spott von Klassenkameraden, Hohn von Dorfbewohnern ertragen, Misstrauen war die Währung mit der man hier zahlte, für das “Sumpfgesindel” hatte man nichts übrig. Wer dort lebte stand am Rand der Gesellschaft. Aber auch Hilfsbereitschaft lässt sie Kya erfahren, eine ungewöhnliche Freundschaft schließen, lässt sie charakterlich wachsen an diesem unbändigen Freiheitsgefühl, lässt sie an Selbstbewußtsein gewinnen.
Sie erschafft so eine Heldin, der man nicht jeden Tag zwischen Buchseiten begegnet, die sie ausstattet mit einem Talent ihre Wahrnehmungen in Bilder zu fassen, die eine Verbindung hat zu allem hat was lebt, was wächst, grün ist und gut. Der Menschenansammlungen ein Greuel sind. Die eine Verletzlichkeit hat die anrührend ist und auch einen Mut der staunen macht. Ich bin froh mich entschieden zu haben, sie kennen zu lernen.
Ein Kriminalfall wohnt im inneren Kern ihrer Geschichte, für die ich am Ende einen Punktabzug vergeben muss. Dies für den Schluss, er ist mir zu märchenhaft, zu zuckrig geraten, was mich aber gleichzeitig gespannt darauf sein lässt, ob sich nach Resse Witherspoons Fürsprache, Hollywood an diesem Stoff die Filmrechte sichern wird. Drama trifft auf eine traumhafte Kulisse, garniert mit einer Prise Romantik. Ein echter Blockbuster-Stoff ist das, eine Geschichte, die man sehr gut auch in und mit stimmungsvollen Bildern erzählen könnte. Damit das Hörbuch ein Kinofest für die Ohren wird wurde sie verpflichtet:
Luise Helm, Schauspielerin und Synchronsprecherin, sie ist schon mal hollywooderfahren, hat u.a. schon Megan Fox, Norah Jones oder Scarlett Johansson ihre Stimme geliehen. Serienfans kennen sie stimmlich vielleicht auch aus Six Feet under oder Luther. Sie liefert hier eine Fassung ab, die man in einem Rutsch durchhören möchte. Ich bin ihr im Hörbuch zum ersten Mal begegnet und sie hat mir ausgesprochen gut getan! Dies besonders in den soften Textpassagen, bei den Landschaftsbeschreibungen und wenn sie Kya gibt. Das macht sie einfühlsam, sehnsüchtig aber auch wehrhaft. Helm weiß die Fluchtreflexe unserer Heldin gekonnt zu betonen, ihre Furcht erreicht mich selbst durch das Lautsprechergehäuse. In den Gerichtsszenen ist sie leidenschaftlich, kämpft für die Angeklagte. Alte Sklavenlieder erheben sich klagend in der Marsch, die Töne einer Mundharmonika – und Luise Helm singt! klar und und wehmütig …
Träume von Flucht, selbst in den Tod, schwingen sich immer zum Licht auf. Wer bestimmt die Zeit zum Sterben?” (Textzitat)
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