Donnerstag, 12.07.2018
Heute bin ich mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden, so sagt man das doch, wenn einem nichts richtig gelingen will. Schon vor dem Wecker hat das Telefon gleich mehrfach geklingelt und mich aus dem Schlaf gerissen. Nach dem Sprint an den Hörer war klar – keiner mehr dran. Im Bad geht es mit kleinen Unfällen weiter, die Zahnpasta landet auf der frisch gebügelten Bluse, den Ellbogen schlage ich mir an der Türklinke an, leichte Nackenschmerzen, und der Antrieb diesen Tag mit Leben zu füllen ist mir irgendwie abhanden gekommen.
Draußen zieht nach der Hitze der letzten Tage Dunst auf, als wolle er mich vor dem abschirmen, was heute auf mich wartet. Wieder zurück ins ins Bett? Klingt verlockend, ist aber keine Option. Es warten Erledigungen im Job und Termine auf mich. Mit der letzten Tasse Kaffee vor meiner Spätschicht grüble ich rum und meine Gedanken bleiben an einem Roman hängen, der mich immer schnell wieder einfängt, wenn ich in unserer heut so bequemen Welt einen Hänger habe. Dann nehme ich ihn aus dem Regal und blättere mich noch einmal durch das Leben von Andreas Egger, nur wenige Bücher lese ich mehrfach, dieses ist eines davon:
Ein ganzes Leben (Robert Seethaler)
Es ist im Februar 1933, als Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes schultert und ihn drei Kilometer weit über einen tief verschneiten Bergpfad ins Dorf hinunter trägt.
Dort kommen die beiden aber nicht gemeinsam an, der “Hörnerhannes” springt, obwohl halbtot, von seinem Buckel und verschwindet in der Dunkelheit …
Der Egger hingegen kehrt im Dorf unten in der Wirtschaft ein um sich aufzuwärmen, mit Schnaps und an seiner großen Liebe Marie.
Ab jetzt nimmt Seethaler uns huckepack und mit in das Leben von Andreas Egger. Wir erleben die Kindheit eines vierjährigen Jungen, der beim Schwager seiner Mutter zum Hilfsknecht heranwächst. Ein geprügeltes, an Leib und Seele verletztes Kind.
“Gründe für die Züchtigungen gab es genug: verschüttete Milch, verschimmeltes Brot, ein verlorenes Rind oder ein verstottertes Abendgebet. Einmal geriet dem Bauers die Gerte schon beim Schnitzen zu dick oder er hatte vergessen, sie einzuweichen, oder er hatte wütender als sonst zugeschlagen, so genau konnte man das nicht sagen, jedenfalls schlug er zu und irgendwo in dem kleinen Körper knackte es laut und der Bub rührte sich nicht mehr …” (Textzitat)
Nein er war nicht gestorben, der Knochenrichter hatte den gebrochenen Oberschenkelknochen wieder zusammengeschoben, nur aus der Hüfte stand er jetzt schief heraus und sollte ihm zeitlebens Schmerzen bereiten.
Als die Elektrizität ins das Tal kommt, die Bergbahnen Fremde und Fremdheit bringen, ist Andreas Egger dann bei einem Bautrupp mittendrin statt nur dabei.
Nachdem er seine Marie kennen gelernt hat, schöpfen wir mit Andreas Hoffnung, in der einsamen Hütte dort am Berg, in Demut und mit einer Zufriedenheit die tief geht, kehren wir mit ihnen ein. Als die Lawine abgeht, wir das Grollen schon vorher vernehmen, das Unheil heranrollend spüren, würden wir am liebsten aufgeben, angesichts dessen was dieses schneeweiße Ungeheuer mit sich reißt …
Von Visionen geplant, von einer zunehmenden Verwirrtheit gezeichnet, von den Dörflern mitleidig mitleidig als “Verrückten” betuschelt …
“Und im nächsten Augenblick war der Wind wieder da. Er kam in einzelnen Stößen, zerzupfte den Nebel und trieb ihn in Fetzen auseinander. Egger hörte das Heulen des Windes, wenn er um die höher gelegenen Felsen strich, und das Wispern im Gras zu seinen Füßen. Er ging weiter durch die Nebelschlieren, die wie Lebewesen vor ihm auseinanderstoben — Und dann sah er die Kalte Frau, wie sie etwa dreißig Meter über ihm den Hang überquerte.” (Textzitat)
Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien ist aus dem Stand zu einem meiner Lieblingsautoren geworden. Diesen kleinen, feinen Roman mit seinen 185 Seiten über den Außenseiter Andreas Egger, sein Leben in einem Dorf in den Alpen, voller Entbehrungen, karg, hart und unbarmherzig finde ich großartig!
Seine Figur des Egger macht uns eindrücklich klar, wie sehr das Glück in den kleinen Dingen liegt. Die Genügsamkeit mit der diese, seine Hauptfigur, alle Übel überwindet hat mich tief beeindruckt. Fast eine japanische Gleichmut kann man an ihm erkennen, kein Zorn bringt ihn soweit, dass er nicht annehmen kann, was das Leben für ihn bereithält und da ist wahrlich nicht alles rosarot. Bereits nach wenigen gelesenen Seiten hatte ich eine so große Sympathie für diesen geschlagen und getretenen Jungen, diesen schweigsamen Mann, wie es nur bei wenigen Büchern die ich bislang gelesen habe der Fall ist. Das und die Fülle an Ereignissen, die in diesem schmalen Büchlein Platz finden, und der Eindruck, dass dabei am Ende nichts ungesagt geblieben ist, haben mich uneingeschränkt für diesen Roman eingenommen.
Pures, reines Seelenfutter ist das!
Nicht zuletzt wünsche ich mir, dass ich an manchen Tagen nur ein kleines bisschen mehr von Andreas Egger in mir hätte, damit ließe sich so einiges stemmen und es wäre auszuhalten, wenn es einmal klopft und mein irdisches Lichtlein erlischt …
“Alles an ihm war krumm und schief. Sein Rücken schien in einem engen Bogen der Erde zuzustreben und immer öfter hatte er das Gefühl, seine Wirbelsäule wachse ihm über den Kopf. Zwar war sein Stand am Berg immer noch fest und nicht einmal die kräftigen Fallwinde im Herbst konnten ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Aber er stand da wie ein Baum, der in seinem Inneren schon morsch war.” (Textzitat)
Schreibe den ersten Kommentar