Die verschwindende Hälfte (Brit Bennett)

Am 25. Mai 2020 ging ein Handy-Video um die Welt. Aufgenommen von einem Passanten zeigt es, wie ein Polizeibeamter in Minneapolis den afroamerikanischen Familienvater George Floyd rund acht Minuten lang mit dem Knie auf dessen Nacken zu Boden drückt. Floyd stirbt. Sein Tod löst landesweite Proteste aus, und ein Hashtag “Black Lives Matters” taucht in den sozialen Netzwerken auf der ganzen Welt auf. Es kommt zu schweren Ausschreitungen bei den sich anschließenden Demonstrationen und der Roman von Brit Bennett The vanishing half, der eine Woche vor dem Tod von Floyd in den USA erschienen war, wurde zu dem Buch der Stunde. Im Kern seiner Handlung geht es um das “Passing”, um das heimliche Überschreiten der Rassenschranken und Bennett greift in ihrem Plot noch eine weitere Tatsache aus der Geschichte der Vereinigten Staaten auf. Zur Zeit der Rassentrennung gab es ganze Gemeinden, in denen über die Jahre hinweg nur noch Ehen mit hellhäutigen Partnern geschlossen wurden um auf diese Weise zu erreichen, dass die Bewohner jener Orte immer “weißer” wurden (undercover whiteness). An einen solchen Ort, bei ihr fiktiven Ort, nimmt uns die Autorin mit, sie nennt ihn Mallard …

“Sie hatte sich immer wie die ältere Schwester gefühlt, auch wenn sie nur ein paar Minuten früher geboren war. Aber vielleicht hatten diese sieben Minuten, in denen sie zum ersten Mal getrennt gewesen waren, sie schon für das ganze Leben auf verschiedene Spuren gesetzt, damit jede für sich entdeckte wer sie war.”

Textzitat Brit Bennett Die verschwindende Hälfte

Die verschwindende Hälfte von Brit Bennett

Mallard. Louisiana. Die Bewohner stolz, auf ihre Traditionen, auf ihre Geschichte, auf ihre Kinder. Vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation immer hellhäutiger geworden waren. Nur eines fehlt ihnen: Die weiße “Selbstverständlichkeit”, die Gewissheit das sie in jedem Restaurant bedient werden, kein Verkäufer Sorge hat sie würden etwas stehlen …

Im eigenen Körper die Schwester sein. Das konnte sie. Desiree Vignes konnte so tun als wäre sie Stella. Was umgekehrt bei den Zwillingschwestern nicht funktionierte. Mit sechzehn hatte nun also ihre Mutter beschlossen, das aus den beiden Mädchen jetzt Putzfrauen werden sollten, so wie sie eine war. Das Geld war knapp und an Schulbildung hätten sie genug genossen ließ sie verlauten.

Die Mädchen hassten es. Bei den Duponts großreine zu machen. Hassten ihre aufgequollenen Finger im Wischwasser und vielleicht war die Flucht, die eine von ihnen heimlich plante deshalb auch nur konsequent. Beide verschwanden 1954 nach New Orleans und nur eine von ihnen sollte vierzehn Jahre später in Mallard wieder auftauchen. An ihrer Hand ein dunkelhäutiges Kind. 

Der Job als Menschenjäger, als Kopfgeldjäger reizte ihn. Er hatte kein Problem damit auch Schurken zur Strecke zu bringen. Als er jetzt das Foto seiner neuen Zielperson in den Händen hielt stutzte er aber doch. Die junge Frau hatte er schon einmal gesehen. Es war lange her. Damals in Mallard. Sie waren Teenager gewesen und ihre helle Haut hatte bewundert war sie doch in ihrem Herzen so dunkel wie er. Jetzt suchte ihr Mann nach ihr, ließ nach ihr suchen, abgehauen war sie ihm nach seiner Aussage, grundlos und ihr gemeinsames Kind hatte sie mitgenommen …

Brit Bennett, geboren 1990, aufgewachsen im südlichen Kalifornien, studierte an der Stanford University und an der University of Michigan. Ihr erster Roman Die Mütter erschien 2016, schaffte es aus dem Stand auf die US-Bestsellerlisten und wurde für zwei Literaturpreise nominiert. Übersetzt haben ihren zweiten Roman Die verschwindende Hälfte Isabel Bogdan und Robin Detje, der auch schon Die Mütter ins Deutsche übertragen hat und mit dem Ton von Bennett vertraut ist.

Zwillinge die den Kontakt verlieren, ein Zettel auf dem steht, “Vergib mir Schatz, ich muss meinen eigenen Weg gehen”. Was war da passiert? Warum brach Stella alle Brücken hinter sich ab und bleibt verschwunden? Tritt ein in eine Welt, die nur weißen Amerikanern vorbehalten ist. Und warum heiratet ausgerechnet die selbstbewusste Desiree den dunkelhäutigsten Mann den man sich denken kann?

Die Furcht im Nacken und reichlich Schuldgefühle im Gepäck, weil sie ihre Mutter einfach so im Stich gelassen haben. Durchschlagen, Zähne zusammen beißen, von der Wäscherin zur Sekretärin? Ihrer Herkunft, ihrer Rasse wegen war doch nicht einmal eine Bewerbung als solche denkbar …

New Orleans, Burlesque-Tänzerinnen, den beiden jugendlichen Landeiern, süße sechzehn, gehen die Augen über. Jazz-Clubs und Schuhputzer, das Leben in der Stadt, gefahrvoll und verlockend zugleich. 

Ein anderer Mensch werden, in eine andere Haut schlüpfen. Desiree hatte Stella nicht gefunden, weil sie nicht gefunden werden wollte und da kam jetzt plötzlich Early Jones, der Kopfgeldjäger daher, gab vor, das man nur wissen müsse wie man suche müsste …

Hänseleien und Einsamkeit aushalten, selbst dann noch galt das für diese  junge, langgliedrige Frau als sie eine Goldmedaille gewonnen hatte, denn Laufen das konnte sie. Das Davonlaufen vor Spott und Hohn hatte sie quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Denn Desiree Vignes Tochter Jude war schwarz, wie der Anfang und das Ende der Nacht. Blauschwarz gar war der Ton ihrer Haut. So wie der ihres gewalttätigen Vaters … 

“Wenn man ein anderer Mensch werden wollte, war das Schwerste der Entschluß, der Rest war Logistik.”

Textzitat Brit Bennett Die verschwindende Hälfte

Aus Estelle Vignes wird Stella Sanders, die Nerz gerne knöchellang und Smaragdarmbänder trägt. Die ein blondes Mädchen zur Welt bringt, mit violett-blauen Augen. Vernunft vor Gefühl. Mit einer Lüge leben, sich selbst und seine Herkunft verleugnen. In ständiger Angst sein, das einem die Tarnung, die man mühevoll aufrecht erhält heruntergerissen wird wie die sprichwörtliche Kappe. 

Dies ist die Geschichte von Desiree und Estelle Vignes und es ist auch die Geschichte ihrer Töchter. Es ist die Geschichte von Bindungen, von Blutsbanden, von schicksalhaften Begegnungen und von Zufällen.

Brit Bennetts Geschichte ist von Beginn an packend und meine Neugier weckt sie, indem sie mich mitnimmt auf eine spannende Spurensuche. 

Was, wenn man die eigene Mutter nicht kennt? Wenn dann eine Fremde auftaucht und einem genau das beweist. Die man dafür hassen will, es aber nicht kann. 

Geschickt webt die Autorin ihre Geschichte auf der nächsten Generationsebene weiter. Wirft Fragen nach Liebe und Verrat auf. Nach einem verdrängten Trauma und immer wieder nach Verleugnung. Das ihr mitreißend. Weil man stets mitten zwischen ihren Figuren steht. Ich war betroffen und wollte am liebsten eingreifen ins Geschehen.

Bennett lässt Entwicklung zu bei ihren Figuren, und ich bin erstaunt in welche Richtung sie sie führt. Ihre Handlung verzweigt sich, das macht sie sehr geschickt, und es gelingt ihr so die Geschichte unvorhersehbar zu gestalten. So wie das Leben selbst mal von spontanen Entscheidungen, dann wieder von wohl überlegten, gut durchkalkulierten beeinflusst wird, ob man mit ihnen das gewünschte Ergebnis erreicht oder auch nicht, lässt sie ihre Schwestern und Cousinen ihre Lebensentscheidungen überdenken. 

Wem ist man zur Ehrlichkeit verpflichtet? Schützt nicht eine Lüge diejenigen die man liebt manchmal besser? Wie tief kann man ein Geheimnis in sich vergraben ohne sich selbst dabei zu verlieren und ist dieses neue Selbst das daraus entsteht dann wirklich das Lebenswertere?

Ein Bruch zwischen Mutter und Tochter. Nicht nur einer. Wie viele kann man kitten? In dieser Geschichte steckt viel, viel mehr als man von außen hinter dem bunten Cover vermutet. Parallelgesellschaften, Rassismus, Lebenslügen, reichlich Themen, das generationsüberspannend werden bedient und trotzdem wirkt sie zu keiner Zeit überladen.

1986 werden Grenzen neu gezogen. Eine Gemeinde geht in einer anderen auf, Mallard wird ausradiert aus jedem geographischen Verzeichnis. So verschwindet der Ort an dem die Vignes – Schwestern geboren worden sind von der Landkarte. Schuld aber, die man auf sich geladen hat, schwindet nicht …

Tessa Mittelstaedt, geboren am 1. April 1974, Theater- und Filmschauspielerin, ich kenne sie als Franziska aus dem Kölner Tatort, der nach ihrem Ausscheiden 2012 nicht mehr der ist, der er einmal war (finde ich) liest mir in rund 10 Stunden diese Geschichte vor. Sie nimmt sich auf eine sehr angenehme Art zurück um den Text wirken zu lassen. Ist dann wieder leidenschaftlich, bleibt sehr empathisch und eng bei den Figuren. Nach diesem wunderbaren Vortrag von ihr und dieser tollen Story würde ich mir jetzt noch eine Mini-Serie wünschen, die mit einer guten Besetzung ohne Frage ein Volltreffer werden würde. So wie bei Celeste Ng, an deren Dramaturgie mich Bennett ein wenig erinnert hat und deren Roman-Verfilmung von Kleine Feuer überall so gut gelungen ist.

Nach den Zugvögeln von Charlotte McConaghy habe ich jetzt erneut eine Geschichte begeistert beendet, die ich mir ohne Stupser selbst nicht ausgesucht hätte. Mein Dank geht daher erneut an das wunderbare Team des Argon Verlages für dieses Besprechungsexemplar!

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