Die Nächte der Pest (Orhan Pamuk)

Literatur-Nobelpreisträger dürfen das: Sich ein Land einfach neu erfinden und so tun als sei es existent gewesen. Sich eine türkische Insel nebst Prinzessin erträumen, die irgendwo zwischen Kreta und Rhodos liegt, wo es nach Rosenwasser duftet, üppig und grün ist, mit einer alles überragenden weißen Burg, in der Sonne leuchtenden roten Dächern und einer Gesellschaft, die halb muslimisch, halb christlich beinahe einträchtig im Miteinander ist. Beinahe halt. Denn sie existiert in einer Zeit, in der ein Bakterium seinen Weg aus Asien findet und alsbald alle Toleranzschwellen verschiebt.

Im Prolog werde ich blumig empfangen und ahne da bereits, das es opulent weitergehen wird. Was ich so allerdings nicht erwartet habe ist, dass ich mich ständig neu sortieren will, weil ich die Grenzen zwischen Erfindung und Fakt nicht erkenne, derweil ich durch verseuchte Stadtviertel haste, während ich mich an Camus’ Die Pest erinnert fühle und blinzelnd immer mehr Gemeinsamkeiten mit unserer pandemischen Zeit erkenne als mir lieb ist …

Die Nächte der Pest von Orhan Pamuk

Wir schreiben das Jahr 1901, das Osmanische Reich beherrscht Sultan Abdülhamit II., ein Mann der sich nicht nur für Kriminalgeschichten interessiert, sondern auch für die neuesten Erkenntnisse der westlichen Medizin. Was passt, denn Dank seiner Umsicht und Dank Bonkowski Pascha, seinem obersten Gesundheitsinspektor, konnte jüngst erst ein Pestausbruch in Izmir erfolgreich eingedämmt werden.

Als sich jetzt ein erster Pestverdacht auf der nahe Kreta liegenden Insel Minger gründet, heißt es schnell und entschlossen handeln, dafür reist Bonkowski eilends mit seinem Assistenten in geheimer Mission an. Viel vermag er dann aber nicht auszurichten, was nicht an ihm liegt, denn er lebt nicht lang genug dafür. Man findet ihn schon kurz nach seiner Ankunft gemeuchelt, und die Pest kümmert es nicht, sie blüht.

Jetzt soll es ihr Job sein sie zu bremsen: Pakize Sultan. Sie ist die Nichte des Herrschers und ein Geschenk desselben an den Quarantäne-Arzt seines Vertrauens Dr. Nuri. Ihre Heirat ist zwar gestiftet, aber die beiden Verkuppelten sind wider Erwarten glücklich, und als der Lehrer und Mentor Dr. Nuris, Bonkowski, ermordet aufgefunden wird, treten Pakize und ihr Gatte auf den Plan, respektive auf mingerschen Inselboden, um gegen die Mörder und die Pest gleichermaßen anzutreten …

Orhan Pamuk, geboren 1952 in Istanbul, u.a. ausgezeichnet 2005 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2006 mit dem Literatur Nobelpreis wollte nach eigener Aussage schon lange einen Pestroman schreiben und fing 2016 damit an. Sein Schreiben überholte dann quasi im Frühjahr 2020 die Corona Pandemie. Pamuk lehrte zu diesem Zeitpunkt an der Columbia Universität in New York, kehrte in Angst und Sorge vor dieser Seuche nach Istanbul zurück. Übersetzt aus dem Türkischen hat Gerhard Meier und der ORF schob Die Nächte der Pest soeben auf seine Monatsbestenliste.

Mich weht beim Zuhören ein Hauch von Schicksal an. Nicht nur die Dämonen Pamuks erkennt man in diesem Text, mich starren auch die meinen an. Meine Sorgen davor ernsthaft krank zu werden, die Angst um meine Liebsten. Überschattet wird diese Sorge aktuell von der und darüber, was einem despotischen Herscher, der einen brutalen Angriffskrieg in Europa führt, noch einfallen möge.

Auch bei Pamuk drehen die Verantwortlichen irgendwie durch, bis zum Anschlag auf und den Regierten geht die Geduld aus. Christen beschuldigen Muslime, umgekehrt traut man sich nicht über den Weg. Überzeugungen prallen aufeinander, für die falschen bezahlen Unschuldige mit ihrem Leben. Vertrauen und Gehorsam könnten helfen. Die eingesetzten Mittel aber sind Folter, Gefangenschaft und der Einsatz von Militär. Mittels öffentliche Hinrichtungen setzt man auf Abschreckung.

Mich gruselt zwischen Scheichs, orthodoxen Priestern, Kerkermeistern, Spionen und korrupten Politikern, zu denen mich gleich zwei exzellente Sprecher in der Hörbuch-Fassung mitnehmen:

Thomas Loibl geboren 1969 in Brüggen, deutscher Schauspieler und Juliane Köhler, geboren 1965 in Göttingen lesen die ungekürzte Hörbuch-Fassung mit ihren rund 24 Stunden, der Roman im Print umfasst 696 Seiten. Loibls Vortrag habe ich schon im Grand Hotel Europa von Ilja Leonard Pfeijffer genießen dürfen, ihm fällt der Löwenteil der Lesung zu. Er macht das auch hier wieder wunderbar. Ist gegenwärtig, übertreibt nicht, bleibt lebendig. Köhler ist für mich im Hörbuch eine Neubegegnung, sie schlüpft vorlesend in die Rolle der Urenkelin von Pakize und Dr. Nuri, die als Historikerin im Rahmen einer Doktorarbeit unter anderem die Geschichte der Insel Minger aufarbeitet. Wir begegnen ihr im Roman zu Beginn und am Ende, so bildet sie den Rahmen und die Klammer die sich um die Geschichte schließt als die einzig abweichende Zeitebene, ist für mich wie eine Stimme im Hinterkopf.

Apokalyptische Fieberträume, Ratten ohne Zahl, und noch mehr Flöhe.

Eine Rebellion, Aufstände in Indien gegen die Briten, Zar Nikolaus spricht vom “kranken Mann am Bosporus”, der deutsche Kaiser entsendet Soldaten nach China. Sein Botschafter wurde ermordet. Religiöser Fanatismus scheint ebenso ansteckend wie die Pest, muslimische Sekten bekämpfen zum Christentum Bekehrte bis aufs Blut.

Verleugnung weicht Gewissheit. Wir kennen das mittlerweile aus eigenem Erleben inmitten zunehmendem Infektions-Geschehen. Zunächst verstummen die Zweifler, um sich dann erstarkt Gehör zu verschaffen. Wir nennen sie heute Querdenker.

Der Glaube an Amulette und Gebetszettel kann die Verbreitung der Pest nicht stoppen, trotzdem hält man im muslimischen Viertel daran fest, missachtet Quarantäneaufrufe sowie ein Mindestmaß an Hygiene. Die Folgen sind so absehbar wie unausweichlich.

Folterknechte, Barbiere und Kaiser-Wilhelm-Bärte. Durchgedrehte, Militärs, nichtsnutzige Prinzen und schöne Prinzessinnen. Anmutige Haremsdamen, leere Straßen, Hamsterkäufe und Banditen.
Bestattet wird ohne Gebet, dafür mit viel Kalk. Schwarze Rauchsäulen steigen über der Insel dort auf, wo das Hab und Gut Pestkranker verbrannt wird.

Maßnahmen bringen nichts, die Zahl der Toten nimmt weiter zu. Die Schuld daran haben immer die anderen. Ein Gouverneur wird abgesetzt, die Quarantäne-Insel Minger geächtet, blockiert, die Telegrafenverbindung nach außen gekappt, es kommt zur Revolte. Doch auch sie vermag die Seuche nicht zu stoppen …

Wieviel davon ist historischer Fakt und was Erfindung? Sinniert man darüber nimmt es der Geschichte ihren Fluss, besser man kann sich fallen lassen auf den Teppich der aus Pamuks Detailfülle gewebt ist, oder in die Arme der von ihm eingebetteten Liebesgeschichten. Bei mir ging das nicht. Ich hatte schon mit der epischen Breite der Erzählung zu kämpfen. Eine gewisse Opulenz braucht es besonders bei historischen Romanen, die genieße ich auch, aber ein wenig mehr Spannung, schließlich ist hier ja ein Mord passiert, hätte schon sein dürfen. Auch mehrere Erzählebenen hätten dem Roman aus meiner Sicht gut getan. Die Handlung plätschert linear geradeaus, die Zuspitzung der Lage wird für meinen Geschmack doch recht gelassen schildert, dabei ist sie an Dramatik und aufgrund der hohen Mortalitätsrate kaum zu überbieten.

Punktabzüge vergebe ich auch für die deutsche Übersetzung, die Begriffe verwendet, die meinem Gefühl nach um 1900 noch nicht geprägt waren und eher einem modernen pandemischen Sprachgebrauch entsprechen. Sie wirkten im Gesamtkontext störend auf mich und hinterließen bei mir auch das Gefühl, das nicht wenig aus dem heutigen Pandemie-Geschehen auf einen historischen Pestausbruches projeziert worden ist:

Lebensmittelengpässe, ankommende Handelsschiffe stehen unter Quarantäne, der verzweifelte Versuch die Insel zu verlassen gelingt nur noch wenigen Wohlhabenden. Schiffspassagen sind kaum noch zu ergattern, die Schulen schließen, es hagelt Verbote als mache es Freude sie zu verhängen. Zwischen alldem macht man Jagd auf Ratten, aber Fallen und Gift sind so rar wie zu unserer Zeit Mundschutz, Handschuhe und Selbsttests.

Pamuk wirft im inneren Kern seines Romans die Frage auf, ob eine muslimisch geprägte Gesellschaft mit einer derartigen Seuchenbelastung anders umgeht als eine christliche. Eine Antwort darauf gibt er nicht, oder ich habe sie nicht gefunden, dafür aber zahlreiche eskalierende gegenseitige Ressentiments, die offenbar so alt sind wie die Zeit selbst und die auch beim Ausbruch einer Seuche nicht abzustellen sind. Dabei marschiert ein beachtliches Personenballett auf. Jede noch so kleine Nebenfigur wird ausgeschmückt, es spielt keine Rolle ob nur ein Schriftsteller als Quelle zitiert wird oder ein neuer Protagonist die Bühne betritt. So ist ein Mikrokosmos entstanden, den es so gegeben haben könnte. Wer ihn, seine Ausgestaltung und den ausschweifenden Erzählstil Pamuks mag, wird an dieser Geschichte Gefallen finden. Aber auch wenn in ihr der tief verwurzelte Wunsch nach Freiheit wohnt, verlasse ich sie enttäuscht. Als Opfer meiner eigenen Erwartungen. Was, wie mein Chef zu sagen pflegt, grundsätzlich positiv ist, denn wenn ich zuvor getäuscht wurde bin ich jetzt wenigestens ent – täuscht. Erwartet hatte ich hinter dem Etikett “historisch” eben kein Märchen …  

Mein Dank geht an Der Hörverlag für dieses Besprechungsexemplar.

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