*Rezensionsexemplar*
Donnerstag, 08.08.2019
Physische Mauern begrenzen, trennen, schirmen ab, schützen, gleich aus welchem Baumaterial sie sind. Wir gehören zu einem Volk, das Mauern sehr gut kennt, wir hatten auch schon eine. Sie teilte Berlin, trennte Familien voneinander, schnitt in Herzen, prägte die Identität einer ganzen Generation, wenn nicht gar mehrerer. Reißt man sie körperlich nieder, bleiben sie in den Köpfen zurück, bis sie auch dort verblassen, sich auflösen braucht es einiges mehr an Kraft, als Presslufthämmer liefern können.
Über Mauern gibt es so einiges zu erzählen, die USA planen eine auf der Grenze zu Mexiko. In der Fantasy trennt die Große Mauer ersonnen von George R.R. Martin das Gute vom Bösen. Gefängnismauern sollen in unserem Jetzt den gleichen Zweck erfüllen. Ich bin gespannt welchen Zwecke dieser Autor seiner Maurer bemisst und was ich davor, respektive dahinter, finden werde:
“Auf der Mauer wird ein Tag zu jedem Tag. Die Architektur der Tage ist immer gleich”. (Textzitat)
Die Mauer von John Lanchester
Alle mussten Sie hier Dienst tun, Männer wie Frauen, im Verhältnis etwa 1:1, in dieser Zeit des Wandels, um ihre Küste, um ihr Land vor Angriffen zu schützen. Zehntausend Kilometer lang, auf der Maurerkrone drei Meter breit, auf der dem Meer zugewandten Seite fünf Meter hoch, auf der Landseite je nach Geländeverlauf auch höher. Wer hier seinen Dienst begann, den führten sie zu ihrem Fuß, an die immer gleiche Stelle mit der Treppe, dann ragte sie kalt und glatt vor einem auf. Ein Monster aus Beton, wenn es feucht war schwarz, kantig und abweisend. Wie alle Gebäude die es hier gab, in denen die Schlafsäle, Speiseräume, die Waffenkammern untergebracht waren. Und es war kalt hier.
Zwei Arten von Kälte unterschieden sie. Die, die einem in die Knochen kroch, die aber nicht gefährlich war und die, bei der man nicht wieder aufstand, wenn sie einen niederstreckte.
Jeweils zwölf Stunden dauerte eine Wache, am Tag oder in der Nacht. Tage in denen es nicht stürmte und an denen man bis zum nächsten Wachturm, oder bis zum übernächsten sehen konnte, drei, sechs Kilometer weit, gehörten zu den guten … Die Tagwachen waren anstrengend. Die Nächte aber hatten es wirklich in sich, besonders dann, wenn man die Hand nicht vor Augen sehen konnte, wenn der zweihundert Meter entfernte nächste Posten verschwand, man allein war mit sich und der Kälte, dann kroch die Furcht einem tief in die Knochen. Jedes Geräusch klang dann verdächtig, jeder eigene Atemzug zu laut …
Als Leser oder Hörer beginnen wir den Dienst auf der Mauer in der Nähe von London mit einem jungen Mann, der dort als Verteidiger ausgebildet wird. Wir frieren mit ihm. Zählen mit ihm die Stunden und Tage. Hoffen darauf, dass es bei den zwei Jahren Dienstzeit bleiben wird. Hoffen darauf, dass es in dieser Zeit keinen Angriff geben wird, dass wir niemanden werden aufspießen müssen, mit dem Bajonett, das auf unserer Waffe steckt. Wir hoffen und doch ahnen wir längst, das hier noch etwas lauert …
John Lanchester, britischer Schriftsteller, geboren 1962 in Hamburg, aufgewachsen im Fernen Osten, entwirft hier eine dystopische Geschichte, die dann doch auch wieder nicht dystopisch ist. Eingedenk der chinesischen Mauer könnte ein solches Szenario ebenso gut zu einem historischen gehören. Mit Angriffen Mann gegen Mann muss man hier rechnen, zu jeder Tages- oder Nachtzeit.
Dann aber ruft Lanchester Wasch-und Reinigungsroboter auf den Alltagsplan, Flüchtlinge werden zu Dienstlingen (was für ein Wort für moderne Sklaven!) sie erleichtern den Alltag. Implantierte Chips sorgen für die ultimative Kontrolle. Eine Welt, eine Gesellschaft im klimatischen Wandel zeichnet er, die Landschaften umformt, die Menschen fliehen lässt in Regionen, die man noch erträgt. Eine Welt, in die man keine Kinder mehr setzen will.
Politiker kultivieren hier fragwürdige Regeln, heizen die Stimmung noch auf. Sie kamen vom Meer, die Verzweifelten, in Schlauch- und Ruderbooten. Wenn Schwarm und Küstenwache sie nicht am Durchkommen hindern konnten, dann war es an ihnen den Verteidigern auf der Mauer das Problem zu lösen.
Einer gegen Einen. Schaffte es jemand über die Mauer, dann wurde zur Strafe ein Verteidiger verbannt, zum Leben auf dem Meer. Diejenigen, die man einließ stellte man vor die Wahl: Einschläfern, Dienstling oder Fortpflanzler zu werden.
Apropos Dystopie, wie weit sind wir denn tatsächlich noch von einer solchen Idee entfernt? Schon heute branden Flüchtlingswellen gegen die Küsten der wohlhabenden europäischen Staaten, unter ihnen sind auch heute schon Klimaflüchtlinge. Das Abstimmungsergebnis zum Brexit spricht eine deutliche Sprache was das Zugehörigkeitsgefühl von Großbritannien zum Rest von Europa angeht. Lanchester setzt hier an, beim Klimawandel den wir immer noch zu ignorieren versuchen, spinnt den Gedanken einfach mal weiter.
Erzählt uns von Trainings, von Angriff und Verteidigung jenseits von Fairplay. Von tapferen Männer, von Anführern, Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein, aber auch von Lüge und Verrat. Von Sympathisanten und Netzwerken.
Lässt seine Helden zwischen tödlicher Langeweile am Tag und Todesfurcht in der Nacht schwanken. Bei jedem Heimaturlaub spüren sie die tiefen Gräben zwischen den Generationen, die Schuldfrage wird aufgeworfen, wer klärt sie? Verzeihen scheint unmöglich. Auch Piraten kann man hier begegnen, das allerdings jenseits jeglicher Romantik.
Abschottung, Leben und Überleben, aus dem “Ich und die Anderen” wird ein neues Wir. Entbehrungen lehren uns, wieder mit Dingen wie Licht und Wärme zufrieden zu sein. Was ist schon gerecht und selbst, wenn man das für sich geklärt hat, was tun, wenn das was einem widerfährt nicht gerecht ist? Weil es Regeln folgt, die einer totalitären Gemeinschaft entsprungen sind.
Eine Geschichte, die mich mit Ruhelosigkeit zurückgelassen hat, in Bezug darauf wohin wir mit unserer Menschengemeinschaft da steuern. Vieles was auf uns wartet, scheint mir von Menschen gemachtes Unheil.
Hier wartet ein intelligenter Plot, der spannend aufbereitet ist, ohne dabei je reißerisch zu werden, der mich meinen Brexit Fantasien überlässt. Allein war ich nicht auf dieser Reise, zum Glück, an die Hand genommen hat mich:
Johannes Klaußner, geb. 1985, Schauspieler und Sohn von Burghardt Klaußner. Der Vater ist mir im Hörbuch schon ein lieb gewonnener Gefährte geworden. Wie der Vater so der Sohn? Die Klangschrift von Johannes Klaußner ist hier sanft und nachdenklich, er spricht für uns die Gedanken von Lanchesters Figuren laut aus. So fühlt man sich von dem Ich-Erzähler direkt und persönlich angesprochen, wird sofort in die Geschichte hineingezogen.
Die Loyalität zum Vaterland ist das Eine, das zu schützen was man, respektive wen man liebt ist das Andere. Unserem Verteidiger kommt eine Beziehung dazwischen und Klaußner meistert auch dies glaubwürdig, schafft stimmlich Betroffenheit. Ich bin ihm sehr gerne gefolgt, über, auf und hinter die Mauer. Ihm und Lanchesters Worten …
“Denn auch darum geht es bei einer Geschichte, dass sie etwas ist, das jemand hören will.” (Textzitat)
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