*Rezensionsexemplar*
Samstag, 01.02.2020
Der Brexit war gestern und das ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen. Seit dem 01.02.2020 gehört nun also Großbritannien nicht mehr der Europäischen Gemeinschaft an, die damit eine ihre größten Volkswirtschaften verliert. Über die Folgen dieser Entscheidung wird seit Wochen und Monaten spekuliert. Steht ein Land vor der Zerreißprobe?
Schottland bemüht sich wieder verstärkt um staatliche Unabhängigkeit, wie werden die Iren und Nordiren mit dieser neuen Situation umgehen? Banker sind weltweit besorgt, was London und seine künftige Rolle als bedeutender Finanzplatz anbelangt. Verschwörungs-Theoretiker treten auf den Plan und bezweifeln, dass das Referendum mit rechten Dingen zugegangen ist. Wurden hier nicht doch Meinungen über Social Media & Co. geschickt beeinflusst? Der britische Schriftsteller Ian McEwan, der uns in seinen Geschichten stets viel Raum für eigene Interpretationen und Gedanken lässt, wofür ich ihn verehre, hat sich über einen staatlichen Alleingang der Briten auch so seine Gedanken gemacht …
Die Kakerlake
Als er aufwachte, war ihm der Körper in dem er steckte fremd. Er lag auf dem Rücken und schaute erschrocken auf seine Gliedmaßen. Es waren nur noch vier, der Kopf wog schwer, seine Augen hatten seine Facetten verloren. Wie war er nur hierher gekommen? Und wie in diesen Körper?
Auf dem Fußboden bemerkte er eine Bewegung. Ein kleines, braunes Geschöpf kroch über den Teppich auf den Spalt unter der Tür zu. Dieser Körper da am Boden, war ihm, das war ganz eigenartig, mit seinem schönen, glänzenden braunen Panzer, so viel vertrauter war als dieser, sein jetziger.
Er versuchte sich zu erinnern an den Weg, den er bis hierher zurückgelegt hatte und an die Aufgabe, die vor ihm lag. Etwas drängte ihn. Da war etwas zu entscheiden, das fühlte er. Da war etwas, wo er hin musste, noch war es unbestimmt. Ein Ort an dem er gebraucht wurde …
Die Tür geht auf und eine Frau betrat sein Schlafzimmer, spricht ihn sehr vertraulich an und der Name, den sie benutzt lautet Jim Sams. Er stutzt und denkt sich: Das ist jetzt aber nicht der Körper des amtierenden britischen Premierministers in dem ich stecke? Also, ich fürchte doch …
Ian McEwan, geboren 1948, britischer Schriftsteller, lebt in der Nähe von London. Kennen gelernt habe ich ihn erstmals mit seinem Roman “Maschinen wie ich”, der im Mai 2019 erschienen ist. Für die vielen Gedankenfäden, die zahlreichen offenen Fragen, die er mit diesem Roman in mir gepflanzt hat, habe ich ihn besonders gemocht. Diesmal verneigt er sich vor Franz Kafka an und dessen “Verwandlung”, adaptiert sie und dreht den Spieß ein wenig um. Wo bei Kafka im ersten Satz ein Mensch als ein Insekt erwacht, ist es bei McEwan, in einer analogen Szene eine Kakerlake, die sich in einem menschlichen Körper wieder findet.
“Als Jim Sams, clever, aber keineswegs tiefsinnig, an jenem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine riesenhafte Kreatur verwandelt.”
Textzitat Ian McEwan Die Kakerlake
Bei McEwan heißt der Protagonist Sams, bei Kafka Samsa. Wo bei Kafka die Verwandlung zur Isolation führt, auch weil er seinen Samsa jeglicher Kommunikationsfähigkeit mit Menschen beraubt, lässt McEwan seinen Jim Sams zum eloquenten Blender mutieren. Die beiden ersten Sätze, den von Kafka und den McEwan hingegen kann man beinahe deckungsgleich übereinander legen. So heißt es in Kafkas 70seitiger Erzählung, die erstmals 1915 erschien:
“Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.”
Textzitat Franz Kafka Die Verwandlung
Spannende Parallelen also. Aber zu entdecken, wo die beiden Erzählungen auseinander gehen, und wie aktuell die Botschaft McEwans ist, die er versteckt hat, hat mir noch größeren Spaß gemacht.
Auch weil McEwan Satire kann, das ohne albern zu werden. Er kann Humor ohne plump zu sein. Er erlaubt es uns hier das Leben einmal aus einer ganz einer anderen Perspektive zu betrachten. Aus der eines Insektes, eines der meist gehasstesten überhaupt. Von ganz unten also, und als jemand der acht geben muss, nicht zertreten zu werden erleben wir die Welt neu. Dabei lässt er uns auch an tierischen Gewohnheiten teilhaben. So knabbern wir zum Beispiel am Rande eines Gullis an einem Stück Pizza Magherita (ohne Oliven) und wir klettern gleich anschließend auf einem Pferdeapfel herum, dessen Aroma er sehr anschaulich zu beschreiben weiß.
Von offenbar höheren Mächten und von Schuhsohlen, die fünfzehn mal größer als der eigene Körper sind. Die die Erde erzittern lassen, wenn sie krachend den Boden berühren. Trommelschläge, Flaggen. Gefangen am Boden inmitten eines Heers von Demonstranten. Wütende Rufe gellen durch die Luft. Die Absätze von High Heels entpumpen sich als tödliche Waffen. Spannend ist dieses Gewusel und geschickte Ausweichmanöver sind geboten.
Von Katzen gehetzt flüchten. Da, ein Spalt hinter der Sockelleiste, der Zuflucht bietet. Aufatmen. Von anderen Gefahren, wie einem Staubsauger, will ich gar nicht erst reden. Auch nicht von der Angst, sich in seinem Inneren wieder zu finden. Angesaugt, verletzt und zerschlagen.
Ein Fischerboot in französischem Hoheitsgebiet wird gerammt und versenkt. Sechs tote britische Fischer, ein Eklat und eine handfeste diplomatische Krise sind die Folge. Im Herzen eines Twittersturms fliegen Ziegelsteine und Brandsätze auf die französische Botschaft in London. Dieses Intermezzo lenkt nur ab von den aktuellen, den wagemutigen, genialen, andere würden sagen irrwitzigen politischen Ansätzen eines Premierminister der jegliche Bodenhaftung verloren zu haben scheint. Der EU will man gehörig auf die Nerven gehen, die Geldströme umkehren. Eine Kampagne muss her, es müssen Verbündete gefunden werden. Eine Hymne braucht es. Wie wäre es mit “walking back to happines”? Ein Premier im Rausch.
Eine rückwärts gewandte Politik in Zeiten einer vorwärts strebenden Welt. Ein Premierminister im Zwiespalt. Kann ein Alleingang für Großbritannien tatsächlich die gesuchte, die herbeigesehnte Lösung sein?
Reversalismus heißt hier das Zauberwort, nicht Brexit. 2050 soll Großbritannien dadurch das Zentrum aller weltweiten Handelsabkommen sein. Nach der erfolgreichen Umsetzung dieses tollkühnen Master-Plans wird schließlich nicht nur Britannien, sondern die Welt und unser Planet gesunden. Ehrgeizig, vermessen um nicht zu sagen anmaßend sind sowohl die Ziele als auch die gewählten Methoden. Ich schlackere mit den Ohren angesichts dieser Thesen. Während der Dow Jones schwankt wie eine Fieberkurve während einer schlimmen Influenza habe ich meine helle Freude an diesem Zirkus. Mit spitzer Feder überzeichnete Szenen, eine quirlige Entwicklung auf den Punkt gebracht.
Nur aus dem Chaos entsteht eine neue Ordnung und Geschöpfe, die das Licht scheuen, sind die Profiteure …
Bei Burghardt Klaussner, geboren 1949 in Berlin, zögere ich keine Sekunde. Bei ihm ist man vorlesetechnisch stets in den besten Händen. Er meistert besonders Texte mit nachdenklicher Note mit Bravour und versteht es, diesen gewissen Nachhall zu geben.
Auch in dieser parodistischen Erzählung lässt er die Sätze nachklingen. Lässt ihnen Zeit zu wirken, durch Satzpausen, die er ganz gezielt einsetzt, in diesen 157 Minuten ungekürzter Hörzeit. Seine angenehm tragende, warme Stimme passt hervorragend zu McEwans Kakerlake. Die Lebendigkeit mit er den Test ausgestaltet, er gibt sich mal lakonisch, mal ironisch, er reitet diese Welle und er reißt mich mit …
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