*Rezensionsexemplar*
Donnerstag, 30.01.2020
Wie lange schon laufe ich durch Welt mit einer Geschichte im Kopf? Nicht immer ist es meine eigene. Nennt mich Tagträumerin, ich halte mich trotzdem für eine eher pragmatische Realistin. Wird mir einmal alles zuviel. Zuviel Arbeit, zuviel Aufgabe, zuviel Kummer, dann flüchte ich häufig, flüchte mich in eine Geschichte. Das Leid anderer kann dabei auch vom eigenen ablenken. So wie vielleicht hier und das Laufen, tut es tatsächlich auch, ablenken meine. Man muss nur lange genug unterwegs sein, wenn man auch nie vor sich selbst davon laufen kann, gleich wie schnell man auch rennt. Eine Erkenntnis die weh tut, besonders dann, wenn man stehen bleiben muss, um sich dem zu stellen, vor dem man da am liebsten weit weg laufen möchte. Laufen heißt aber auch auf dem Weg sein, und ist es nicht allemal besser als Stillstand? Auch dann, wenn man noch nicht genau weiß wo man eigentlich hin will?
Laufen von Isabel Bogdan
Sechs oder acht Jahre war es jetzt her, dass sie zum letzten Mal gelaufen war. Fit war sie gewesen, daran erinnerte sie sich, nicht daran das ihr schon nach hundert Metern die Luft ausging, sich ihre Beine schwer wie Blei anfühlten, ihr Atem pfeifend kam, die Erdanziehung mehr als wahrnehmbar war. Ihr Körper musste vergessen haben, wie es geht. So wie er einiges vergessen hatte, seitdem …
Zehn Kilometer hatte sie früher locker geschafft. Gut, da war sie noch keine vierzig gewesen. Sie kann nicht mehr und treibt sich innerlich doch an, wenigstens noch bis zum nächsten Grünstreifen durchzuhalten. Ein Stück gehen zwischendurch war ja auch erlaubt. Beim Laufen tut endlich der Körper weh. Sie kann sich auf ihn konzentrieren und aussteigen, aus dem Gedanken-Karussell auf dem sie sonst im Kreis fährt, die Geschwindigkeit, mit der ihre Gedanken kreisen so hoch, dass sie nicht abspringen konnte. Es hatte nie mehr angehalten, seitdem …
Endlich wieder Dinge zu Ende bringen. Nicht einkaufen und dann doch nichts kochen. Ein Leben läuft an uns vorbei, vor unserem inneren Auge ab. Ihr Leben. Ein Leben, das geprägt ist von einem Verlust. Ich fühle mit ihr, schlucke schon bei den ersten Textzeilen hart. Fühle mit dieser Frau, deren Namen ich nicht kenne, der Ich-Erzählerin in dieser Geschichte, die sich mir anvertraut, ihre Gedanken teilt sie mit mir, als wäre ich eine gute Freundin.
“Ich war richtig wütend, das ich nicht verwitwet ankreuzen durfte, bloß weil wir nicht verheiratet waren. Ich fühle mich aber verwitwet. Das muss man doch ankreuzen können. Ledig. Was für ein Unsinn. Ich bin doch nicht ledig. Das klingt ja wie Single, als wäre ich auf der Suche. Ich bin nicht auf der Suche. Ich bin verloren.”
Textzitat Isabel Bogdan Laufen
Sich auf den eigenen Atem konzentrieren und nur auf ihn. Wieder einen Rhythmus finden. Wieder ein Ziel haben. Isabel Bogdan schenkt uns eine Figur, die sie nach einer Betäubung suchen lässt, so wie man sie beim Zahnarzt bekommt. Eine Betäubung, die hilft bei dem was das Leben einem antut. Sie lässt sie kämpfen mit sich und ringen mit den Dingen. Die Körperwahrnehmungen ihrer Heldin kommen uns nah.
Ein Jahr war jetzt vorbei, alles war zum ersten Mal ohne ihn geschehen. Von der Beerdigungs-Organisation ausgeschlossen, weil kein Trauschein ihre Beziehung legitimiert hatte, den Gang zum Grab vermeidend, weil dort seine Eltern permanent präsent waren. Sie, die Komische. Die Orchester-Musikerin, war die, die Schuld hatte.
Wenn die Kraft fehlt, sich zu wehren. Verletzungen nicht heilen wollen, ist das nicht hilfreich: Alle seine Sachen hatten die Eltern abgeholt. Plötzlich mussten Kaffeetassen sortiert, CDs geteilt und Möbel bewertet werden. Als müsse die gemeinsame Zeit, als gehöre IHRE gemeinsame Zeit ausgelöscht. Als habe sie, seine Partnerin kein Anrecht darauf Teil dieses Lebens gewesen zu sein, kein Anrecht auf Trauer. Ausgerechnet seine Schlafanzüge waren das einzige was ihr noch sächlich von ihm geblieben waren. Sie hatte sie versteckt und trägt sie nachts …
Die Wohnung nach diesem Raubzug halb leer und weil seine Eltern auch Konto-Vollmacht hatten, blieb prompt die Hälfte der Miete aus.
Wahrscheinlich spielen sich hundertfach in unserer Republik und anderswo solche und ähnliche Szenen ab. Anstand und Würde im Umgang miteinander sind uns fremd geworden. Die Werte unserer Gesellschaft befinden sich im Wandel auf eine Art und Weise, wie die wenigsten von uns sie gut finden. Es ist Zeit anzufangen damit aufzuhören und ein guter Anfang sich den Blick dafür zu öffnen ist diese Geschichte. Lasst uns nicht voreinander und vor einem Konflikt davon laufen, sondern lieber aufeinander zugehen …
Vielleicht sind es diese Alltags-Grausamkeiten, diese Gedankenlosigkeiten, die mich am meisten gepackt haben. “Wie kann man nur”, hätte ich am liebsten laut ausgerufen und mit der Faust für sie auf den Tisch geschlagen und “Jetzt ist es aber gut”, gebrüllt. Jemand muss doch für SIE kämpfen! Damit darf man doch nicht allein bleiben dürfen!
Ich bewege mich zwischen Hochs und Tiefs mit ihr, erlebe das Ratschläge auch Schläge sind. Warum darf man nicht traurig sein, wenn man es ist? Warum muss man sich anhören, dass es damit jetzt genug sein muss?
Die Hoffnung. Als Silberstreif am Horizont ist sie wahrnehmbar. Wir laufen auf sie zu. Die Luft geht uns aus, die Entfernung scheint doch größer als gedacht. Das hier ist ein Marathon kein Sprint. Die Strecke, die man zurücklegen muss, um schmerzliches hinter sich zu lassen, misst kein Navigationsdienst dieser Welt. Niemand sagt uns, wie weit es noch ist und wie lange es noch dauert. Das hilft beim Aushalten nicht, nicht beim Loslassen, da braucht es anderes. Hände, die halten und Menschen, die da sind. Die auch die Sorge nehmen, dass es nicht wieder besser werden darf, man den, den man verloren hat, dann damit auf dem Gewissen hätte.
Wer Isabel Bogdan als Übersetzerin kennt, wird hier ihre sprachliche Gewandtheit wieder finden. Einen Satzbau und eine Interpunktion, die durch den teils kurzen Satz-Takt Eindrücke so verstärkt, dass sie wie Nadelstiche wirken. Wer die Autorin von ihrem “Pfau” her kennt, so wie ich, lernt hier eine komplett neue Seite von ihr kennen. Nach dem trocknen, britischen Humor des Pfaus, zeigt sie hier verletzliche und grundmelancholische Facetten, die Betroffenheit erzeugen, ohne einen einzigen Funken Rührseligkeit. Viele ihrer Sätze haben mich nachdenklich gemacht, viele habe ich mir mitgenommen.
Jetzt aber verrate ich kein weiteres Wort mehr, viel gilt es in diesen dichten 4 Stunden und 47 Minuten der Hörbuch-Fassung zu erfahren, zu der die am 3. März 1975 in Freiburg im Breisgau geborene Schauspielerin
Johanna Wokalek einlädt. Ich bin tatsächlich etwas mitgenommen, so gut hat sie das gemacht. Jedes Wort habe ich geglaubt, an jeder Silbe geklebt. Empathisch und nie zu melodramatisch, umwerfend vereinnahmend, warmherzig, traurig, nie gefühlsduselig liest sie, was bei dieser Geschichte keine einfache Aufgabe ist. Bogdans Ich-Erzählerin findet in Wokalek einen solchen Widerhall, sie schwankt zwischen Schuldgefühlen und Wut, das ich versucht bin zu glauben, ihr ist das alles passiert. Sie spiegelt eine Zerrissenheit, die mich tief berührt hat und mich in meiner Entscheidung mehr als nur bestätigt hat, mir diesen Text vorlesen zu lassen. Ich höre ja fast überwiegend im Auto und diesmal, habe ich unterwegs, auch wegen ihres Vortrags, ihrer Authentizität, anhalten müssen. Sie hat jeden Preis verdient, mit dem man sie dafür ehren kann und ich zerdrücke ein Tränchen, das ihr der Deutsche Hörbuchpreis 2020, für den sie in der Kategorie Beste Interpretin nominiert war, entgangen ist. Für mich ist sie zu einer Herzens-Sprecherin geworden!
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