Die feine New Yorker Farngesellschaft (Oliver Sacks)

*Rezensionsexemplar*

Donnerstag, 16.01.20120

Ist es nicht so, dass eine schöne Blüte einen neutralen Begleiter braucht um zu glänzen? Ihr Begleiter hingegen wirkt erst in seiner schlichten Eleganz, weil es sie gibt, die edle Blüte?

Auch wenn ich die nachfolgende Einschätzung von Oliver Sacks nicht ganz teile, so bin ich ganz bei ihm, wenn es um die zarten Schönheiten geht, denen er sich hier leidenschaftlich gewidmet hat. Gleich ob nur vier oder fünf Zentimeter groß, oder baumhoch: Die Farne.

“Blumen mit ihrer Unverhülltheit, ihrer Unverblümtheit, finde ich ein bisschen aufdringlich.”

Textzitat Oliver Sacks Die feine New Yorker Farngesellschaft

Gleich zu Beginn muss ich diesmal um Verzeihung bitten, für die schwärmerische Ausführlichkeit, die mich hier erwischt hat. Wenn der Winter sich nicht entscheiden kann, ob er noch auf der Wetterbühne erscheinen will, der Kalender schon auf Ende Januar vorgerückt und noch immer kein Schnell gefallen ist, feuchtes Nebelwetter und anhaltendes Grau die Tage beherrscht, beginne ich von zartem, frischem Grün zu träumen.

Reiseträumen nachhängen, jetzt ist auch Zeit dafür und ist es nicht ganz wunderbar der eigenen Fährte noch Jahre später lesend folgend zu können? Wer mich und meinen Blog kennt, der kennt auch sie, meine Reise-Logbücher. So archiviert, kann man eine Reise gleich mehrfach erleben, sich immer wieder an ihr erfreuen, innere Bilder auffrischen, die schon verwaschen und verblasst waren. Sonst geht so viel in der Erinnerung wieder verloren und die Freude daran, den ersten, noch frischen Eindruck eines Erlebnisses festzuhalten, teile ich auf jeden Fall mit ihm, dem Autor den ich heute im Lesegepäck habe:

Oliver Sacks. Er wurde 1933 in London geboren. Als Professor für klinische Neurologie am New Yorker Albert Einstein College war er federführend für eine bahnbrechende Studie über die Schlafkrankheit. Spätestens jetzt klingt da in uns ein Glöckchen. Ja, diese Geschichte wurde verfilmt, mit dem Unvergessenen Robin Williams und mit Robert de Niro, unter dem Titel “Zeit des Erwachens”. Oliver Sacks verstarb leider 2015, aber er hinterließ uns etliche Bestseller, darunter “Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte” und “Der Tag, an dem mein Bein fortging”. Ich bin traurig als ich lese, dass wir nichts neues mehr von ihm werden erlesen dürfen, aber dankbar auch, dass es noch Lesestoff von ihm gibt, den ich noch nicht entdeckt habe. Sechsundsechzig Jahre alt war Sacks, als er diese Mexico-Excursion unternahm und ich bin so froh, dass es mir Dank seines Tagebuches möglich war dabei zu sein.

Denn kaum ein botanischer Garten ist unterwegs vor mir sicher und auf der Suche nach fossilen Einschlüssen, bin ich schon mit Hammer und Meißel bewaffnet einer heimischen Schieferhalde auf den Leib gerückt. Ammonite sind die steinernen Zeugen der Zeit, sie verraten uns, wo einst ein Meer gewesen ist und auch ihre Abdrücke kann man im Schiefer finden, die von Farnen. Noch faszinierender finde ich nur noch den Gedanken, dass sie noch heute als lebendige Urzeitzeugen unter uns leben, wachsen und gedeihen.

Je nach Art sind ihre Wedel zart und filigran, das Licht vermag durch sie hindurch zu scheinen. Baumhoch können sie werden und auch in der kleinsten Spalte Fuß fassen. Anspruchslose Schönheiten, denen sich die Amerikanische Farngesellschaft verschrieben hat, erstaunt und mit wachsender Begeisterung habe ich hier erstmals über sie gelesen, nie zuvor hatte ich von ihr gehört. Welch profundes Wissen sich die ihr angehörenden Hobby-Botaniker angeeignet haben. Welch schöne Gemeinschaft und welche Leidenschaft in ihren Erkundungen steckt!

Welch überraschende Erkenntnisse, welch drängende Fragen ihre Unternehmungen aufwerfen. Wie kommt es, das Pflanzen Gift und Halluzinogene produzieren, solche die LSD ganz nahe kommen? Denkt doch mal an Digitalis oder Strychnin. Sind das wirklich nur ganz profan Stoffwechselnebenprodukte oder aber ein Schutzwall um Pflanzenfresser zu vergiften? Wie ist schon den Urvölkern ihre Wirkweise aufgefallen, durch Irrtum und Zufall, oder durch Ausprobieren? War ihr bewusster Konsum von Halluzinogenen vielleicht sogar der Grund für die Formen, die sie bei Bemalungen und Verzierungen verwendeten? Solch einen Zusammenhang kann eigentlich nur ein Neurologe herstellen und ich bin einmal mehr verblüfft von Sacks Pfiffigkeit.

Mit unserem Autor habe ich gestaunt, hoch über den Wolken beim Blick auf Mexico City. Bei dem was wir da durch das Flugzeugbullauge sehen, spielt es keine Rolle, ob diese Mega-Stadt nun 15 oder 22 Millionen Einwohner zählt. Die Berge, rund um den Vulkankrater des Popocatepetl, die wir sehen sind bis auf ihn schneebedeckt und wunderschön. Neun ganz unterschiedliche Reisegefährte begleite ich, erlebe ihre Sicht, ihr enormes Wissen, an dem sie mich teilhaben lassen. Herrlich und leicht humorig plaudert mir Sacks seine Erlebnisse daher. Ich lerne von ihm und durch ihn wie im Vorbeigehen, z. B. über den Trank der Götter, den Kakao. Das durch die Reibung seiner Bohnen gar kein Pulver entsteht, sondern ein zähflüssiger herber Saft, der von den Maja, durch die Spanier, nach Europa gelangte und dort gesüßt zu einem Modegetränk wurde.

Das man den Hunger der ganzen Welt stille könnte, würde man den Ameisen ihre Säure entziehen und sie zu Nahrung machen. Warum man unbedingt einmal Heuschrecken probieren sollte, auf keinen Fall aber ein Glühwürmchen und schon gar nicht drei von ihnen verzehren sollte. Aus welchen Kaktusfrüchten man die beste Marmelade kochen kann, die ein wenig nach Erdbeeren schmeckt. Was es mit dem Mescal, dem Agavenschnaps, auf sich hat und warum ausgerechnet ein in ihm eingelegter Wurm in Mexico als Delikatesse gilt. Welche genialen Baustoffe die Aztekten kannten und wie sie ihre Bauten durch Lehm mit Pflanzenstoffen versetzt erdstoßsicher machten.

Limonenbäume, Granatapfelbäume, Kandelaberkakteen in Reih und Glied. Reichbewachsene kleine Grundstücke gehören im ländlichen Mexico zu vielen Familien, ein Esel aber kostet hier mehr als ein Auto in den USA? Die Spuren, die die Kolonialgeschichte hinterlassen hat, sind noch allgegenwärtig, findet der Fremdenführer, der mit der kleinen Gemeinschaft reist. Das sehe man z. B. am Abfall überall, man habe es sich nie wieder geschafft Straßen und Städte als Eigentum zu empfinden. Dies unterstützt ein ineffektiver Staat, der korrupt ist und seine Polizisten so schlecht bezahlt, dass sie mittlerweile ebenso gefürchtet sind wie die Gauner, die sie jagen, weil sie mit der Drogenmafia im Bunde seien.

Im Nebelwald versteckt leben nur noch drei Gruppen reinblütiger Indios erfahre ich. Auf kurze Ausflüge in die politischen Wirren und zu Revolten, die 1810 ihren Anfang nahmen, nimmt mich Sacks ebenfalls mit. Hierhin und vorbei an der “mala mujer”, der “bösen Frau”. Einem Wolfsmilchgewächs, um das man besser einen weiten Bogen macht. Über und über ist es mit giftigen Härchen bedeckt, eine Berührung damit, wie flüchtig sie auch sein mag, kann mehr als übel ausgehen …

Die Welt der Pflanzen ist ein Faszinosum und nur so wenig ist uns noch immer von ihr bekannt. Verspüren wir heute Abenteuer- und Entdeckergeist, in einem Heute, wo die Weltkarte komplett gezeichnet ist, dann gibt es hier noch Neuland zu entdecken. Welche Freude Sacks dabei unterwegs gespürt haben muss, ich bin ganz hibbelig und würde am liebsten gleich auch meine Koffer packen. Gut, die Höhenkrankheit muss man ernst nehmen, will man in Oaxaca hinauf bis auf 3.200 Meter so wie er, denn selbst ihn, den Arzt, hat sie erwischt. Weil er abgelenkt war von soviel Eindrücken, leichtsinnig wurde. So wie er mich abgelenkt hat, von meinen Alltagsbeschwernissen. Er und dieses hübsche kleine Büchlein, das sich so schön anfasst, mit seinen Zeichnungen, dem naturnahen Einband und dem farngrünen Rücken. Ich bin mir sicher, ich hatte es nicht zum letzten Mal in der Hand.

Ihm will ich zum Schluß auch danken. Wie oft vergisst man die Übersetzer. Gut, dass es ihn gibt Dirk van Gunsteren, ohne seine Arbeit hätte ich weniger als die Hälfte verstanden, im englischen Original meine ich. Thank you! Very much!

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