Der Archivar der Welt (Lia Tilon)

“Ich strauchelte oft mit der Ausrüstung, hatte Herzklopfen bis in die Ohren, spürte das Gewicht auf meinen Schultern und die Erwartungen, die mir mit größter Selbstverständlichkeit aufgeladen wurden.”

Textizitat Lia Tilon Der Archivar der Welt

Es war einmal der Sohn eines französischen Viehhändlers mit Namen Abraham, der auszog um in Paris als jüngster Angestellter bei einer Bank zu arbeiten. Des Abends nach getaner Arbeit studierte er Literatur, Wissenschaft und Recht, der Philosoph Henri Bergson war sein Lehrer und wurde ihm lebenslang ein Freund. Auch auf der Karriereleiter ging es für Abraham, der sich jetzt Albert nannte bergauf, er wurde zum Teilhaber und gründete 1898 sein eigenes Bankhaus: La banque Kahn, wurde zu einem der reichsten Männer an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. Sein Kapital und Vermögen wollte er für den Frieden unter den Völkern dieser Welt einsetzen, und er wählte dafür eine ganz besondere Methode: Wenn nicht alle in die Welt kommen konnten, dann wollte er die Welt zu ihnen bringen, um Toleranz und Verständnis unter ihnen auszusäen …

“Denn solange die Menschen die gleiche Sprache sprechen, haben wir die Möglichkeit, Ideen auszutauschen, auch wenn sie sich vollkommen von unseren Vorstellungen unterscheiden.”

Textzitat Lia Tilon Der Archivar der Welt

Was sich anhört wie der Beginn eines Märchens, ist real und von der Idee, die diesen Albert Kahn umtrieb, erzählt uns die niederländische Autorin Lia Tilon und entreißt damit diesen ungewöhnlichen Mann dem Vergessen, ich verdanke diese Empfehlung einem lieben Bücherfreund und möchte sie nun an Euch weiterreichen:

Der Archivar der Welt von Lia Tilon

Juli 1908. Alfred Dutertre wusste nicht wie ihm geschah. Sein Chef, Monsieur Kahn, hatte ihn zu sich gerufen und ihm einen Fotoapparat in die Hand gedrückt. Seit drei Jahren arbeitete er jetzt als Chauffeur für den Pariser Bankier Albert Kahn und man konnte sagen, er hatte es gut getroffen mit seinen vierundzwanzig Jahre. Er war der Herr über gleich vier kostbare Fahrzeuge. Das Anliegen aber, welches sein Dienstherr jetzt an ihn heran trug schien ihm dann allerdings doch zu abwegig. Er solle fotografieren lernen? Wozu sollte das gut sein? 

Zeitsprung: Wir schreiben nun das Jahr 1939 und am Horizont zieht ein neuer Krieg herauf. Paris erwartete schwere Bombardements und die Sorge, wie man das Archiv wohl am besten schütze könne, ließ Alfred nicht zur Ruhe kommen, während die Kräfte seines Arbeitgebers zusehends schwanden, sein letzter Hund verstarb und sich im Haus eine gespenstische Stille einnistete, irrte er umher und vernagelte und schleppte Kisten …

Lia Tilon, geboren 1965 in Broek in Waterland, hörte 2012 zum ersten Mal von Albert Kahn, “dem Mann der die Welt fotografierte”. Es sollte noch etwa ein halbes Jahr vergehen, bis sie gemeinsam mit ihrem Mann nach Frankreich reiste um in einem Vorort von Paris das Musée Albert Kahn aufsuchte. Hier stieß sie in der Folge auf die Tagebücher von Kahns Chauffeur Alfred Dutertre und sie wusste, diese Geschichte musste sie erzählen.

“Was mich am meisten überraschte, war die Leichtigkeit, mit der er in der Gesellschaft von Kaisern und Königen stundenlang schweigen konnte. Jetzt weiß ich, dass es Menschen gibt, die durch ihre Taten sprechen, und andere, die das verstehen.”

Textzitat Lia Tilon Der Archivar der Welt

Tilon ergänzt ihren Text durch die Tagebuch-Auszüge des Chauffeurs Alfred Dutertre, die sie mit verarbeitet hat. Übersetzt wurde ihr Text von Ulrich Faure, der noch einen anderen Ton transportiert, einen der wehmütig ist, getragen wird von Dutertre und der die tief verwurzelte Sehnsucht seines Dienstherren Kahn spiegelt, die ihn zeitlebens umgetrieben haben muss. Die ihn beständig und unbeirrbar in das Wachstum seiner Sammlung hat investieren lassen. Den die Kriegswirren, die er miterleben musste, niederdrückten. Das und der Börsenkrach, der ihn alles verlieren ließ. Geschickt hatte er als Bankier zwar investiert in Diamanten und in die japanische Eisenbahn und trotzdem stand er jetzt, als Machtmenschen das Ruder übernehmen und die Märkte kollabierten, mit leeren Taschen da. 

Bevor es aber soweit kommt, reisen wir mit ihm von Paris nach New York, über Honolulu zum heiligen Berg, dem Fujiama nach Japan. Lauschen mit ihm auf das Schlurfen Hunderter Schritte in Tokios Straßen und würden die Stadt allein an ihrem Klang wiedererkennen. Wir werden seekrank mit ihm auf stürmischen Überfahrten, philosophieren mit Einstein und anderen Professoren-Freunden über Dies und Das und Das und Dies. Sind uns einig, widersprechen uns auf Spaziergängen in seinem grandiosen Park. Haben Fernweh und Heimweh, so wie Alfred sein Chauffeur. Von ihm lernen wir eine Menge über das Fotografieren und über die Menschen an sich. Balancieren am Rande von schwindelerregenden Abgründen, haben die Gischt der Niagara Fälle im Gesicht. 

Ich erlese mir die Geschichte einer Freundschaft. Die Geschichte eines großen Traums. Eine Geschichte von edlen Motiven. Diese Geschichte ist weit mehr als ein profaner Abenteuer-Roman. Sie ist vielmehr das Portrait eines außergewöhnlichen Mannes. Albert Kahn (1860 – 1940) lebte seinen Traum, setzte alles daran seine Ideen zu verwirklichen, vermochte andere damit anzustecken. Ein Mann, der schwer zu erfassen war, auch weil er selbst nicht fotografiert werden wollte, der ein ganzes Dutzend Fotografen um die Welt schickte und mit Aufträgen versorgte.

Am Ende des Buches verweist Tilon auf eine Website, zeigt auch ein paar der Autochromen dieser unglaublichen Sammlung, die 72.000 Fotografien umfasst und etwa 100 Filmstunden. Ein einziges Foto, sagt Tilon, hat Kahn selbst gemacht, Museumsstück D4071, es zeigt seinen Chauffeur. Klein und verloren auf einem vorspringenden Felsen am Eriesee …

Der Roman Der Archivar der Welt fußt auf einer faszinierenden und facettenreichen Persönlichkeit, die es nach meinem Empfinden verdient hätte, dass man ihre Leidenschaft auch etwas leidenschaftlicher nachzeichnet. Tilon hat hingegen eine Sachlichkeit gewählt, die mehr dokumentiert, als das sie lebendig werden lässt, was diesen Menschen ausmachte, wie er sein Umfeld prägte, als Visionär und Idealist. Das ist ein kleiner Wermutstropfen für mich gewesen, tut aber der Faszination der Geschichte keinen Abbruch.

Wenn die Autorin Seele und Gefühle ins Spiel bringt, dann gehören sie zu ihm zu Alfred Dutertre, dem Chauffeur, der seinem Arbeitgeber nicht nur loyal, sondern dankbar und freundschaftlich als Gefährte auf allen Wegen zugetan war. Der die Fackel eines lodernden Traumes trug und sein eigenes Seelenheil an Schauplätzen auf’s Spiel setzte, die wir alle lieber aus sicherer Entfernung und durch seine Autochrome betrachten. Die Einsamkeit und Verlorenheit, die er empfunden haben muss, bei der Betrachtung von Not und Elend durch seine Kameralinsen, geben dem dokumentarischen Roman von Tilon eine gewisse Grundmelancholie mit, die mich bei aller Nüchternheit doch berührt hat.

P.S. Das Museum Kahns mitsamt seinen Objekten, befindet sich mittlerweile im Eigentum des Département Hauts-de-Seine und im Umbau. Ab 2021 soll dort, dann wieder ganzjährig, ein Teil der Sammlungen zu bestaunen sein. Online besuchen kann man sie schon heute, und das habe ich dann auch getan, neugierig wie ich bin: unter: http://collections.albert-kahn.hauts-de-seine.fr/

Ein paar der leicht verblassten Fotos, die eine ganz eigene Sprache sprechen, habe ich auf meinem digitalen Spaziergang dort für Euch ausgesucht. Schaut mal:

“Es gilt, das Leben einzufangen, wo es sich darbietet, in der Fremde, auf der Straße, überall”.

Albert Kahn
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