Die Farbe von Milch (Nell Leyshon)

Dienstag, 16.04.2019

Vor mir auf dem Tisch dampft der Kaffee. Auf einer leeren, weißen Seite blinkt mein Cursor fragend. Ich sitze hier vor meinem Laptop und diesem Beitrag und suche nach Worten.

Ach, Mary! Kaum sind die letzten Silben Deiner Gesichte verklungen, treten die Gefühle förmlich gegen meine Bauchdecke. Wie gut ich dich verstehe! Wie gerne ich Dir geholfen hätte! Dich einfach mal in den Arm genommen hätte! Ach, Mary!

Die Farbe von Milch (Nell Leyshon)

“Meine Hand tut wieder weh, und mein Handgelenk tut weh, und ich wünschte, ich müsste all das nicht erzählen. Ich wünschte, ich müsste es nicht schreiben. Ich wünschte, ich müsste es nicht lesen.” (Textzitat)

England, irgendwo auf dem Land.

Diese Geschichte ist Marys Geschichte und sie erzählt sie uns im Jahre des Herrn 1831. Mary ist vierzehn, das Jüngste von vier Geschwistern, und ihr Haar hat die Farbe von Milch. Mit den Schwestern, Mutter, Vater und Großvater lebt sie auf einem ärmlichen Bauernhof. Nicht nur ihr lahmes Bein sorgt dafür, dass sie anders ist, ständig stellt sie Fragen, will einfach alles wissen. Ihre unverblümte Art und wie sie ihr Herz auf der Zunge trägt macht sie nicht nur in ihrer Familie zu einem Sonderling. Was soll sie auch machen, sie hat halt einfach immer recht, mit ihrem unverstellten Blick auf die Dinge. Ihr strenger Vater, der sie und die Schwestern unbarmherzig zum Arbeiten antreibt, sie auch prügelt, wenn sie ihm nicht folgen, versucht erfolglos ihr Einhalt zu gebieten. Ihre Mutter, die man nie lächeln sieht, weil es einfach nichts zum Lächeln gibt, hat längst aufgegeben.

Mit wachem Verstand und aufmerksamem Blick nimmt Mary alles wahr, was um sie herum geschieht und an ihrem Großvater hängt ihr Herz. Seit dieser vom Heuschober gestürzt ist, kann er seine Beine nicht mehr gebrauchen und das Haus nicht mehr verlassen. Die Eltern füttern ihn durch, echte Freundlichkeit jedoch erfährt er, der unnütz geworden ist, nur noch durch Mary.

Eine mondhelle, klare Nacht brachte die Wende in Marys Leben. Dabei konnte die Nacht gar nichts dafür, es waren vielmehr die Tage danach, die die Veränderung herbei, und ihr eine Anstellung im nahe gelegenen Pfarrhaus eintrugen. Eine Anstellung, die erst ungeliebt und dann Segen und Fluch gleichermaßen werden sollte …

Vom Bauernmädchen zum Hausmädchen, zur Krankenschwester. Abgenabelt, abgeschnitten, die Bande zur eigenen Familie gekappt. Ihr Herz und ihr Verstand suchten nach einem neuen Platz in der Welt.

Ein fest gemauertes Haus, so viele Zimmer, so viele Bücher, sogar ein Teppich unter dem Tisch, Teekessel und Porzellan, Kissen auf dem Sofa, ein eigenes Bett – eingetauscht gegen Mist, Schlamm, Hunger und Kälte.

Ihre Dienstherrin wird Mary zum Inhalt ihrer Tage und zum Inhalt ihrer Nächte, die sie mit der kranken Frau durchwacht, bis ihr schwaches Herz schließlich still steht. Von Trauer und Schmerz, von Verlust und Neuanfang und von der Kraft des Wortes geprägt sind die darauf folgenden Wochen, ja Monate. Aber auch von Wut und Angst, von Übergriffen und Gutwill, von Verschlagenheit, vom Schicksal aus dem es kein Entrinnen gibt. Von Schatten, die hinter der Kerzenflammen tanzen, vom Lauschen in der Nacht, von der vergeblichen Suche nach Schlaf.

“Und obwohl mein Körper still im Bett lag, tobte mein Geist wild herum wie eine Biene im Sommer.” (Textzitat)

Mary, wie stolz sie ist, als sie die ersten Buchstaben zu Wörtern aneinander reihen und endlich lesen kann. Wie sie sich im Kerzenschein durch ein Meer aus Zeichen und Zeilen buchstabiert, fleißig und unermüdlich. Die Leidenschaft mit der sie das Schreiben lernen will und wie sie ihr erstes Buch an sich drückt, das wärmt jedem von uns lesebegeisterten das Herz. Wir wissen alle, das sich das anfühlt als hätte man den größten aller Schätze gehoben und wir wollen uns auch mit ihr freuen, wäre da nicht der Preis den sie dafür zahlt …

In Einsamkeit und Abhängigkeit gefangen. Ach, Mary! Was Du mir hier erzählst macht mir das Herz schwer. Ach, Mary! Wie gerne hätte ich Dir durch die Worte hindurch die Hand gegeben und Dir heraus geholfen aus dieser Deiner Geschichte. Ach, Mary!

Welche Opfer Du bringt, bis alle sechsundzwanzig Buchstaben erobert sind. Ach, Mary! Um das Leben los zulassen braucht es einen guten Grund, nicht wahr?

Ein Versprechen, dass Du dem Großvater gegeben hat, ist noch einzulösen.  Ach, Mary! Man tut, was man tun muss, um frei zu sein. Wie gut ich Dich verstehe!

Die Ausweglosigkeit in der Du gefangen bist, macht mich stumm. Ganz elend ist mir zumut, ratlos bin ich, verzweifelt und verzagt. Ach, Mary!

Den Frohsinn hat er Dir genommen, das Lachen hast Du verlernt. Die Heiterkeit, die dich wie ein Kleid umgab, ist verschwunden. Ach, Mary!

Die Farbe von Milch ist Nell Leyshons zweiter Roman, er erschien bereits im Herbst 2017. Mit ihrem ersten Roman Black Dirt schrieb sie sich auf die Longlist des Orange Prize.

Als Autorin ist sie eine aufmerksame Beobachterin, sie schreibt plakativ und szenisch stark, mal steigert sie mit kurzen akzentuierten Sätzen die Dramatik wie ein Schlangenbeschwörer, mal schmeichelt sie mir ihre Sätze glatt, weich und geschmeidig ins Ohr. Dabei trifft sie mich immer, in meinem Innersten.

Es fühlte sich für mich so an, als würde Leyshon sogar einen Schritt zurück treten von ihren Figuren. Dieser Abstand, diese Distanz stellen dann eine Nähe her, die kaum auszuhalten ist, angesichts dessen was hier geschieht. Die Sachlichkeit mit der sie erzählt, ist alles andere, nur nicht kalt. Klingt irgendwie paradox, ich weiß …

Danke für dieses Kleinod von einem Roman, das wir auch aufgrund der großartigen Übersetzung von Wiebke Kuhn in deutscher Sprache in der Hand halten dürfen. Ich verstehe jetzt, warum diese Geschichte bei ihrer Veröffentlichung vor etwa einem Jahr zum Überraschungserfolg wurde und freue mich gleichzeitig darüber auf die Hörbuch-Fassung gewartet zu haben, die im März 2019 erschienen und auch wegen IHR so großartig geworden ist:

Laura Maire, Schauspielerin und Synchronsprecherin, die bereits zweimal schon mit dem Deutschen Hörbuchpreis als Beste Interpretin ausgezeichnet wurde. Ihren Vortrag von Vanessa Diffenbaughs Die verborgene Sprache der Blumen (Rezi auf dem Blog) habe ich noch sehr positiv im Ohr. Hier aber haut sie mich jetzt wirklich vom sprichwörtlichen Hocker.

In den ungekürzten 4 Std. 38 Minuten leiht sie nicht nur der Ich-Erzählerin Mary ihre Stimme, sie liest als sei sie Mary und als erzähle sie uns ihre Geschichte, uns vertraut sie alles an, auch das, was man sonst nicht ausspricht.

Mit großer Empathie ist Maire bei der Hauptfigur, sie schafft es, dass einen nicht nur die Geschichte, sondern auch ihre Stimme berühren.

Ich habe Mary ja gleich gemocht, mit ihrem kindlichen Blick auf die Dinge, wie sie mit ihrem reinen Herzen das Glück im kleinen sieht und ihrem aufgeweckten Geist durchdringt. Ihre positive Grundeinstellung und ihre gute Laune, die selbst der Vater nicht aus ihr herausprügeln kann, haben auch in mir die Sonne aufgehen lassen. Für immer werde ich sie mit Laura Maires Stimme im Herzen tragen!

Und ja, im Frühling nimmt Marys Geschichte ihren Anfang und im Frühling des darauf folgenden Jahres endet sie auch. Wann wenn nicht jetzt im Frühling, wäre also die richtige Zeit um Mary kennen zulernen?

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