Dicht und dunkel, geheimnisvoll und einsam, aber auch mit Lichtungen wo auf hellem, zartem Gras Tautropfen in der Sonne glitzern, der Wind in den Zweigen raschelt. Der Wald – vieles kann er sein. Ein Ort für Entdeckungen oder ein Fluchtpunkt. Nirgendwo kann man so wie hier den Kreislauf des Lebens beobachten. Entschleunigen zwischen uralten Bäumen, die Hände an einen mächtigen Stamm legen, den Blick zu einer imposanten Krone erhoben. Was haben sie wohl alles schon gesehen? Was könnten Sie uns für Geschichten erzählen? Von Krieg und Frieden, von Mut und Verzweiflung, von Hoffnung und Zuversicht, würden wir denn ihre Sprache verstehen. Diese Riesen des Waldes, und still ist es hier, horcht nur, so still …
*Rezensionsexemplar*
Der Wald (Nell Leyshon)
Zu lange schon. Zu lange schon hatte Zophia mit ansehen müssen wie die Menschen aus ihren Fehlern nichts lernen, immer wieder die gleichen Dummheiten begingen. Immer wieder in einen Krieg stolperten, ihn initiierten. Das ist das Dumme daran, sagte sie sich, wenn man zu lange lebte. Man sah zu viel. Man erfuhr zu viel. Man wusste zu viel. Dieses zu viel war wie schweres Gepäck, getragen und geschleppt wollte es werden, auch dann noch, wenn die Muskeln weniger und die Knochen leicht wurden. Wenn Alt werden nichts für Feiglinge war, was war dann Alt sein?
Pawel konnte nicht schlafen. Ruhelos und ängstlich lag er in seinem Bett, als er Schritte auf der Treppe hörte und kurz darauf sein Vater in der Tür stand. Mit Nachdruck verbot er ihm, keinen Widerspruch duldend, sein Bett, sein Schafzimmer zu verlassen, gleich was auch immer er gleich hören würde. Für Pawel klang das wie eine Einladung, die Stimmen im Flur lockten ihn hinaus und wir ahnen es schon, der Junge schlich sich auf Zehenspitzen auf seinen Beobachtungsposten im Treppenhaus, wo er beobachtete wie der Vater zwei Männer hereinließ, die einen großen, eingerollten Teppich trugen, aus dem ein Fuß herausschaute …
Nell Leyshon ist wahrhaft eine Meisterin der Seelenschau. Das hat sie mit ihrem Roman Die Farbe der Milch bewiesen. Ihre Figuren wirkten entblößt, ohne bloßgestellt zu sein. Man meinte sie in- und auswendig zu kennen wie alte Freunde. Leyshon schaute in ihr Innerstes, sie kennt ihre Abgründe und sie stellt sie uns vor, von innen nach außen. Dafür verehre ich sie vom ersten Wort an, dass ich von ihr gelesen habe. Sie zaubert bereits mit wenigen Sätzen eine Stimmung die einen sofort einfängt. Sanft und eindringlich und mit einem Schreibstil der unangestrengt und leicht wirkt. Als flössen all diese Ideen nur so aus ihr heraus. Mit viel Liebe zum Detail zeichnet sie ihre Szenen.
Hier bindet sie Zophia und ihre Familie in den Warschauer Kriegsalltag ein. Schlange zu stehen für Brot, zu frieren, jeden Tag etwas dünner zu werden weil jetzt der Winter da, das Holz knapp und der Mantel aus dem letzten Jahr zu kurz war und nicht mehr wärmen wollte.
Explosionen lassen im Haus erst Putzbröckchen und Staub rieseln, dann bersten Fenster und Türen. Die Welt von draußen dringt ein und die leise Angst der letzten Wochen wächst und gründet sich …
“Sie muss es sich immer wieder vorsagen, die Zeit vergeht … Sogar das Essen von Brot ist verlangsamt in dieser Scheune im Wald, wo die Zeit verwischt und eindickt”. (Textzitat)
Feuer, kochen, essen, schlafen, ein Dach über dem Kopf haben und wenn es nur eine Scheune ist. Die Flucht in den Wald hatte ihr Leben gerettet, aber ihr Dasein auf ein Minimum geschrumpft.
Harte Herzen und Herzen die sich verschließen, um auszuhalten, was ausgehalten werden muss. Kräuterwissen und Kräuterhexen, die sich Baba nennen.
Ein Mann der vom Himmel in ein Leben fällt, das bereits aus den Fugen geraten ist. Der eine Gefahr mitbringt, die man erst fassen muss und der neben der ethisch-moralischen Verpflichtung noch ganz andere Gefühle auslöst.
Der Fluch des zweiten Buches hat hier zugeschlagen, würde ich sagen. Es ist für einen Autoren immer schwierig meine Erwartungen noch einmal zu erfüllen wenn er so steil vorgelegt hat wie Leyshon mit ihrem Überraschungserfolg Die Farbe von Milch. Ich schaffe es dann als Leserin einfach nicht, NICHT zu vergleichen. Was im Grunde genommen schade ist, mir aber für diesen Roman wahrscheinlich auch nicht geholfen hätte, hätte ich es lassen können.
Für mich kann sie mit ihrem neuen Roman Der Wald nicht an ihren Vorgänger herankommen. Mir fehlte diesmal die Tiefe, die ein gutes Drama ausmacht. Einen zu abrupten Zeitsprung fügt sie ihrer Geschichte zu, wie einen tiefen Schnitt, dann wenn ich noch etwas länger auf diesem Zeitstrahl verweilt und ihn gerne auch etwas geklärter verlassen hätte.
Sie reduziert die Handlung, die soviel Potential bietet, auf eine Mutter-Sohn-Beziehung, sie nutzt den Krieg nur wie eine Kulisse, obwohl er im Grunde alles im Leben ihrer Figuren verändert. Für mich ist diese Geschichte zu gefühlig und zu bedeutungsschwanger, ich überlegte schon bei der Hälfte des gehörten Textes, ob sie diese Geschichte vielleicht bereits vor ihrem Erfolgsroman geschrieben hat. Herausgefunden habe ich aber nur, dass er wohl im englischen Original gar nicht verlegt worden ist.
War ich im Roman Die Farbe von Milch voll und ganz bei ihrer zentralen Figur, so ist mir hier der kleine Pawel, den sie sich erdacht hat, mit seinem kindlichen Blick auf die Welt, einfach zu weinerlich und mimosenhaft geraten. So wie seine Mutter Zophia, obwohl sie ihn liebt, mit ihm hadert, hat er auch mich bisweilen an den Rand einer Nervenkrise gebracht. Sooo aufmerksamkeitsheischend, sooo über empfindsam wirkt er.
Da kann auch Laura Maire den Turnaround, hin zu einem gelungenen Gesamteindruck, für mich nicht mehr schaffen, meine Enttäuschung nicht mehr dämpfen, das obwohl sie wie immer alles von sich hineinlegt in diese Geschichte.
Laura Maire –unter den weiblichen Sprechern die mich berühren, rangiert sie ganz weit vorne. Ihre Schmeichel-Stimme hat mich auch hier über die zehn Stunden Hörzeit getragen wie ein Salzsee, klar weich und warm, ich fühlte mich wieder schwerelos und schwebte auf ihren Worten. Sie dringt zu mir durch wie in einem Traum, findet stets einen Draht zu mir.
“Die Vergangenheit auf einem Löffel.” (Satzzitat)
… das Gefühl von Heimat, das man besonders dann hat, wenn man sie verliert, konnte Nell Leyshon mit Maires Unterstützung in mir pflanzen und Ihr nächster Roman wird mir sicher wieder besser gefallen, Frau Leyshon!
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