Antonia Louisa Brico, geboren 1902 in Rotterdam, verstorben im August 1989 in Denver/Colorado, war die einzige Schülerin des deutschen Dirigenten Karl Muck, die er je akzeptiert hat. 1926 arbeitete sie mit ihm in Hamburg und studierte an der Staatlichen Musikakademie in Berlin. 1949 freundete sich sich mit ihrem Idol Albert Schweitzer an, besuchte ihn mehrfach in seiner Klinik in Gabun. Fasziniert von dieser außergewöhnlichen Frau, die im Räderwerk der Musikgeschichte in Vergessenheit geraten ist, hat die niederländische Autorin und Regisseurin Maria Peters nicht nur einen Film über sie gemacht, sondern ihre Hommage auch noch in Romanform verfasst.
Maria Peters, geboren 1956, lebt mit ihrem Mann, einem Filmproduzenten in Amsterdam. In enger Zusammenarbeit mit dem Journalisten Rex Brico, der entfernt mit Antonia Brico verwandt ist, entstand ihre Geschichte. Peters erzählt über den Ausschnitt in Bricos bewegtem Leben, in dem sie sich entschied Dirigentin zu werden. Dies tut sie in einer Mischung aus Fakten und Fiktion. So dichtet sie Frau Brico z.B. eine Affäre mit einem einflussreichen Gönner aus der New Yorker Oberschicht an, bleibt aber bei der Wahrheit, wenn sie nachzeichnet, das sich Brico u.a. in Jazz Clubs ihren Lebensunterhalt verdient hat. Diese bunte, flirrende Nacht-Club-Atmosphäre bildet im Roman einen wunderbaren Kontrast zu der strengen, traditionellen Konzertsaal-Welt, die angefüllt mit Orchesterklängen ebenfalls zu verzaubern weiß …
Die Dirigentin von Maria Peters
New York, 1926. Tagsüber Schreibkraft, abends Platzanweiserin. Als Holländerin wartete sie noch immer auf ihre Einbürgerung, lebte aber schon den amerikanischen Traum. Beethovens Dritte würde es heute Abend hier im Konzertsaal geben. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme bereits als die Musiker ihre Instrumente einstimmten. So war es immer. Im Stillen war sie ihrer Mutter dankbar, dass sie sie zwei Schichten ackern ließ und das sie diesen Job hier gefunden hatte, ganz in der Nähe von Beethoven.
“The Place to be” – war die Herrentoilette im Untergeschoß. Hübsch gekachelt im Art Deco Stil hörte man hier am besten. Sie schloß die Augen, hob das Ess-Stäbchen und begann – zu dirigieren.
Partituren unter dem Bett verwahrt. Sie ist jetzt dreiundzwanzig, gibt jeden Cent aus der Lohntüte brav bei der Mutter ab. An ihrer Wand hängen keine Poster von Filmstars, sondern von Albert Schweitzer und einem Dirigenten aus ihrem Heimatland.
Den Job ist sie los und leider nicht nur den einen. Eine Verspätung wegen des Schreibkraft-Jobs bringt sie zunächst um eine so von ihr begehrte Eintrittskarte für den Auftritt ihres Lieblingsdirigenten und dann war es wohl diese Entscheidung, die sie im Affekt getroffen hatte und die da lautete: Klappstuhl, die sie um Kopf und Kragen brachte. Denn ihn, also den Klappstuhl, platzierte sie in der ersten Reihe direkt hinter dem Dirigenten. An Dreistigkeit ist das nicht zu überbieten, findet ihr Chef, sie fliegt aus dieser Anstellung und auch aus der Wohnung der Eltern … Ihr Klavier wird verfeuert, mit einem verschrabbelten Koffer und ein paar Habseligkeiten landet sie auf der Straße, kommt zum Glück bei einem Band-Kollegen unter …
Diese Dirigentenwelt ist eine Männerwelt. Eine Welt in der Männer bestimmen, wie weit eine Frau kommen kann. Eine Welt in der Männer bestimmen wo der Platz einer Frau ist. Peters formuliert das drastisch: Unter dem Mann und meint das wörtlich im Fall von Antonia Brico. Sexistisch, übergriffig. Was man hier erlebt macht zornig. Diese Heldin hingegen, ihr Unbeirrbarkeit, ihre Leidenschaft, ich nicke voller Respekt.
Es bleibt ihr nichts, eine neue Arbeit muss her und bei der Stellensuche, eigentlich lautete ihre Bewerbung auf “Garderobenfrau”, landete sie am Klavier eines Jazz-Clubs. Noch ist sie etwas steif, ihr Umgang waren bislang eher klassische Stücke, aber das ändert sich rasch und die in der Musik leidenschaftliche Antonia steht ihre Frau. Gewinnt Freunde, findet zu sich und ihrer wahren Berufung.
Seinem Traum folgen, verlacht werden dafür, beschimpft, ausgegrenzt und verspottet. Sei frech und wild und wunderbar. Dieses Zitat Astrid Lindgrens passt ganz wunderbar zu dieser hartnäckigen jungen Frau. Es ist schön sie dabei zu begleiten, wie sie sich allmählich emanzipiert und wie sie sich behauptet. Wie sie ihren Weg geht, sich von den Männern, die Einfluß auf sie nehmen wollen abnabelt. Wie hart sie arbeitet. Wie sehr sie an ihrem Talent feilt.
Vorbei sind sie, die Roaring Twentys. Ein Finanzcrash lässt in New York die Menschen von Hochhäusern springen. Diese Zeit erlebt Antonia in Berlin. Mit ihrem ersten Mentor als Nachwuchs-Dirigentin. Die Berliner Philharmoniker dirigieren so lautet der Plan und dabei nicht ausgebuht werden.
Mit konkurierenden Sopranistinnen muss die Kleiderfrage geklärt werden. Die Stimmkünstlerin will im Scheinwerferlicht glänzen, das steht nicht dem Dirigenten zu. Klassen werden von ihren Lehrern unbeirrt mit “Guten Morgen meine Herren begrüßt”, dass obwohl Antonia schon seit Wochen ebenfalls anwesend ist und man übersieht ihre Wortmeldungen nach wie vor geflissentlich …
Peters erinnert mich daran, das nichts was wir Frauen uns an Rechten über die Jahre erkämpft haben als selbstverständlich angenommen werden darf. Das wir noch lange nicht am Ende sind, wenn es darum geht, dass Leistung und Begabung zählen und nicht das Geschlecht. Schön Sie kennengelernt zu haben, Frau Brico!
Interessant fand ich auch ein Kniff dessen Maria Peters sich bedient. Ihre Erzählperspektive wechselt immer ich-erzählend. So schauen wir einmal durch die Augen von Antonia Brico auf das Geschehen und dann durch die Augen der Menschen, die sie berührt auf sie. Das teils in der gleichen Szenen. So als hätte die Kamera einen Schwenk gemacht – hier spürt man die Filmemacherin in Peters zwischen den Zeilen.
Im Winter des Jahres 1927 beginnt in New York eine Spurensuche für Antonia nach ihrer Herkunft. Eine weite Reise schließt sich an, die sie allen Mut kostet. Eine Prise Romantik, eine Überfahrt mit der Holland-Amerika-Linie. Ein Neuanfang. Aus einem ungewollten Kind, einem Bastard, wird eine selbstbestimmte junge Frau.
Keine einzige Frau im Orchester, nur Antonia am Pult. Ihr aller erster Auftritt, ich halte den Atem an und drücke ihr die Daumen. Mehr als dreitausend Zuschauer im Saal, die sie scheitern sehen wollen. Es gibt im Theater übrigens keine Damengarderobe, weshalb selbst der Weg in den Orchestergraben durch die Herrenumkleide führt. Pardon, ich schweife ab …
Welche Opfer ist man bereit zu bringen, für die Anerkennung, für den Applaus? Was wäre wenn es ein Orchester gäbe, in dem nur Frauen spielten und das von einer Frau dirigiert wird? Ist nicht Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Antonia ist jetzt zweiunddreißig und die versammelte Fachpresse fällt über sie her, als sie ihr Symphonieorchester aus Frauen gründen will. Bis zu dem Tag, an dem sie verraten darf, das keine geringere als die First Lady Eleanor Roosevelt Schirmherrin ihres Projektes werden will …
Mahler, Bruckner, Bach, Beethoven – an den Werken einiger Großer, über ihre Entstehung, lässt uns Maria Peters mittels Informationen teilhaben. Das sind schöne Intermezzi im Text und mit einer dicken Überraschung gegen Ende wartet sie auch noch auf. Da staunte ich nicht schlecht.
Diese Geschichte ist beste Unterhaltung, chronologisch und mit Niveau erzählt. Einen Punkt Abzug vergebe ich für die mir zu dominante Liebesbeziehung im Roman. Die vielleicht ihre Berechtigung im Gesamtkontext hat, da Brico nie geheiratet hat und auch selbst keine Kinder hatte, ihr Leben ganz der Musik schenkte. Mir war das hier aber als Lebens-Ausschnitt zu beliebig, gewünscht hätte ich mir stattdessen etwas mehr Tiefe die Figur der Antonia Brico betreffend. Hier blieb Peters für mich zu sehr an der Oberfläche, ähnlich wie es ein Film tut, glitt auch hier die Kamera für mich zu häufig über Brico hinweg. Was ich schade finde, diese tolle, mutige, spannende Frau hat alles Potential dazu geboten.
Brigitte Carlsen liest in der Hörbuch-Fassung, sie arbeitet seit 1997 als freie Sprecherin. Ihre Stimme war mir gleich vertraut. Angenehm führt sie mich 496 Minuten lang durch die ungekürzte Fassung. Melodisch wie die Geschichte selbst. Sie drängt sich nicht auf, lässt Figuren und Geschichte Raum. Schön auch, das in diesem Hörbuch das Nachwort und das Dankwort einmal mit vorgelesen werden, das hat man selten. So erhält man einen schönen abschließenden Blick auf die historische Figur der Antonia Brico und das weckte meine Neugier, mir im Nachgang die oskarprämierte Doku über sie aus dem Jahr 1975 anzuschauen.
Mein Dank geht an Steinbach Sprechende Bücher für dieses Rezensionsexemplar.
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