Turbulenz – laut Duden: Substantiv, weiblich, steht für sehr unruhiger Verlauf, oder in der Physik für Strömung oder Wirbel. Wikipedia kennt noch den Begriff der “Klarluftturbulenz” und meint damit eine starke Luftbewegung in Bereichen ohne sichtbare Wolkenphänomene, die bei starken Beschleunigungen eines Flugzeuges zu ungewollten Höhenänderungen führen. Von Passagieren umgangssprachlich als “Luftloch” bezeichnet, kommt es/sie wie aus dem Nichts. Für Piloten und Radar gleichermaßen unsichtbar und damit oft nicht zu umfliegen, kann das ein oder andere Loch in der Luft einen durchaus das Fürchten lehren. Wer verliert schon gerne Halt und Kontrolle …
Gleich im doppelten Sinne tubulent geht ist in diesem Roman zu. Alles beginnt auf einem Flug von London nach Madrid. Hier treffen in einer Sitzreihe eine ältere Frau und ein Geschäftsmann aus dem Senegal aufeinander, die nach einer angstvoll überstandenen Flugturbulenz miteinander ins Gespräch kommen. Beider Wege trennen sich bei der Landung, jeder erlebt in der Folge noch einen turbulenten Stolperer und berührt einen anderen Menschen …
Turbulenzen von David Szalay
und es folgen weitere Lebenssplitter, Fragmente aus dem Leben von insgesamt zwölf Menschen, die mit mir unterwegs sind, auf dieser Reise um die Welt, die in London beginnt und die auch dort endet.
Ich begegne besorgten Müttern, Töchtern, rastlosen Piloten, Journalistinnen, Gärtnern, Golfern, Ärzten und Geschäftsmännern. Söhnen, Dieben, Chauffeuren und einer Liebe im Verborgenen. Bin mittendrin statt nur dabei, bei der ersten Begegnung einer Großmutter mit ihrem blinden Enkelkind. Treffe ein altes Ehepaar, das nicht mehr weiß wie es noch zueinander steht. Der Tod eines Sohnes, eine schwere Krankheit, eine neue Liebe, ich vermisse ein verlorenes Geschwisterkind, und dann ein Verkehrsunfall, ein Frachtpilot der sich deswegen verspätet.
Nicht jeder berührt hier jeden, aber ein jeder den nächsten in diesem Erzählreigen. Der Verlag nennt das den “Dominoeffekt”. Mir hat es gefallen, wie hier der Stein ins Rollen kommt. Sehr und besonders empfand ich es, wie mühelos, wie übergangslos, David Szalay seine Protagonisten jeweils das Staffelholz weitergegeben lässt.
Jedes dieser Leben, jeden Lebensausschnitt, betrachte ich mit ihm wie aus der Helikopterperspektive. Eine jede Figur gerät in eine Turbulenz, die für sich genommen bei den Betroffenen einschlägt wie ein Meteorit, im Kontext des großen Ganzen aber verschwindet wie ein Sandkorn in der Wüste.
Gleich ob tragischer Unfall, Hausbrand, oder die Liebe zu einem Menschen die nicht gut tut, im Gegensatz dazu erlebe ich auch, die Rückbesinnung darauf, das einen doch mehr verbindet als trennt. Alle Beteiligten wirken wie einzelne Teile eines großen Räderwerkes, das im Verborgenen von einer ordnenden Hand gesteuert wird. Alles hängt mit allem zusammen. Ein Stein bringt alles ins Rollen.
Dieser Roman ist schwer zu greifen für mich, denn alles fließt und noch schwerer ist er für mich zu rezensieren gewesen, weil was immer ich inhaltlich erzählen würde, ein zuviel wäre. Zuviel Lesegenuß vorweg nehmen würde.
Von daher versuche ich mich mal so an einer zusammenfassenden Beschreibung. Beeindruckend und bemerkenswert fand ich David Szalays Erzählkonstrukt. Alles was geschieht verästelt sich ganz fein in dieser Geschichte, so wie die Blutgefäße eines einzigen Organismus’, die von einem schlagenden Herzen, von dem gleichen Pulsschlag gespeist werden.
Ich fühlte mich als Leserin eingeweiht und schaute doch aus sicherem Abstand auf diejenigen die hier ihre ganz eigenen Luftlöcher erleben, Kapitel für Kapitel. Für die Überschriften seiner Kapitel wählt Szalay die Abkürzungen der Flughäfen die wir alle in dieser Geschichte ansteuern und von denen wir wieder abheben, das wird grafisch unterstützt durch eine Weltkarte die gleich zu Beginn des Romans abgedruckt ist und auf der alle Routen eingezeichnet sind. Als Steuermann und Pilot immer mit an Bord ist …
David Szalay, geboren 1974 in Montreal/Kanada, aufgewachsen in London. Er studierte an der Oxford University Literatur. Mit seinem vierten Roman Was ein Mann ist schaffte er 2016 den Sprung auf die Short List des Man Booker Prizes. Dieser ,sein aktueller Roman, den Ahrens Henning für ihn ins Deutsche übersetzt hat, ist seit dem 17.08.2020 im Buchhandel erhältlich.
Szalay beleuchtet seine Szenen wie mit einem Spot, um dann zur nächsten überzublenden. Dies mit leichter Hand und komplett unaufgeregt. Diese Sachlichkeit ist erstaunlich angesichts der teils dramatischen Geschehnisse. Kurz gefasst auf 136 Seiten, aber ohne zu hetzen und mit hoher Dichte reiht er Ereignis an Ereignis. Das erzeugt eine Grundspannung, die mich beim Lesen neugierig um die nächste Satzbiege getrieben hat.
In einer Geschichte, mit einem Ende so offen wir ihr Anfang. Eine Geschichte wie eine Sternschnuppe. Einen Nachschlag wünschen, das würde ich mir nur allzu gerne …
Mein Dank geht an den Hanser Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
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