*Rezensionsexemplar*
Montag, 30.03.2020
Nachts wach liegen und über sie nachgrübeln, über die Zukunft. Wer tut das nicht, besonders in diesen Tagen. Das ich nicht weiß, was da auf mich zukommt, ist mir lieb. Meistens. Manchmal aber, da wüsste ich es nur allzu gerne.
Zukunftsforscher. Das klingt nach einem Job, den man gut machen kann, wenn man die notwendige Neugier als Zutat dafür mitbringt. Irgendwie romantisch klingt das, finde ich. Das der Beruf mit Hellsicht weniger und mit praktischer Anwendbarkeit viel mehr zu tun hat, habe ich hier gelernt, in diesem Roman. Auch das es wohl einfacher ist zu beschreiben, was die Zukunftsforschung alles nicht ist, als das zu erklären was man da genau tut, erfahre ich von Jean-Philippe Toussaint.
Wie wird unser Leben in der Zukunft aussehen, in der nahen und in der fernen? Werden wir den Mond besiedelt haben, ein Shuttle besteigen und dort Ferien machen können? Wie werden wir mobil sein und womit? Welcher Kraftstoff wird uns antreiben? Welche Berufe wird es noch geben? Werden wir noch telefonieren, skypen oder stattdessen Hologramme betreten? Womit werden wir bezahlen? Sind Bitcoins wirklich das Mittel der Wahl? Wird es noch verschiedenste Währungen geben? Wir träumen schon von einer schönen, neuen Welt und sind dann doch auch froh, sie nicht schon morgen betreten zu müssen. Spannende Fragen, auf der Suche nach Antworten bin ich in diese Geschichte abgetaucht und wenn Ihr mögt, kommt doch mit …
“In dem Moment, in dem wir die Zukunft beobachten, ist sie noch nicht erschienen. Durch die grundlegende Ungewissheit und ihre bedrohliche Unbestimmtheit war die Zukunft seit jeher für den Menschen eine Quelle des Unbehagens.”
Textzitat Jean-Philippe Toussaint Der USB-Stick
Der USB-Stick von Jean-Philippe Toussaint
48 Stunden lang wusste niemand wo sich Jean Detrez befand. Dieser Mann war aufgetaucht und hatte ihn verführt. Verführt mit Worten, versteht sich und er hatte ihn verlockt mit einem Angebot. In zu umgehen war unmöglich, dieser Fremde wusste Details über seine Biographie, die eigentlich niemand wissen konnte und die Wahl, die er, Detrez, zu haben glaubte, dieses Angebot ablehnen zu können, war wohl doch nicht wirklich vorhanden. Etwas eisiges lag in der Luft und plötzlich ängstigte ihn die Unnachgiebigkeit seines Gegenübers …
Jetzt war er eindeutig abgelenkt gewesen von dem dicken Bündel Fünfzig-Euro-Scheine, das sein Gesprächspartner aus der Hosentasche gezogen hatte um damit ihre Rechnung an der Hotel-Bar zu bezahlen. Ohne ein weiteres Wort hatten sie ihn danach stehen lassen, sie waren sich seiner so sicher gewesen, diese beiden Lobbyisten, die ihn bereits vor Tagen angesprochen hatten. Ihn, der für die Europäische Kommission in der Zukunftsforschung arbeitete, der sich mit Geldströmen, Kryptowährungen und besonders mit der Blockchain-Methodik beschäftigte. Jetzt sah er ihnen nach, wie sie die Hotelhalle verließen, sein Blick folgte ihren Schritten und blieb hängen an einem Gegenstand, der auf dem Teppich liegen geblieben war. Ein USB-Stick …
Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf, filmreif entführt er mich in seinem aktuellen Roman nach China. Er beginnt mit einer Leerstelle, mit einer Lücke von 48 Stunden im Leben seiner Hauptfigur und mit einem ersten Satz, der mich sofort abgeholt hat. In dieser Zeitspanne weiß niemand wo sich sein Protagonist befindet und mit dieser Andeutung verwickelt er mich ohne schuldhaftes Zögern in seinen als Spionagegeschichte getarnten Roman. Das so derart, dass ich ihn nicht mehr weglegen konnte. Ich war um den Schlaf gebracht in dieser Nacht, aus Gründen, die Gründe haben, und froh eine solche Geschichte zur Hand zu haben. In einem Rutsch habe ich sie inhaliert, sie quasi “weggesuchtet”.
Toussaint beschäftigt seinen Jean Detrez mit Gedanken und Themen von denen ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte. Damit ich folgen kann, erklärt er sie mir und zwar so, dass sogar ich technisches Embryo sie verstehen kann. Ich komme rum mit ihm, Brüssel – Paris – Peking – Tokio. Dieser Umweg, der keiner ist, sondern Tarnung, unser Handy im Flugmodus und wir abgetaucht hat eindeutig was von James-Bond und ich genieße es.
Es geht um schwindelerregende Summen, um Betrug, Schmiergeld, Ausschreibungen und Fördergelder. Um Bitcoin-Mining und ich entdecke mit Detrez eine Backdoor, eine Hintertür, eine Geheimtür, die einen unerlaubten Zugriff auf eine Software ermöglicht, und uns stockt beiden der Atem, angesichts dieser Ungeheuerlichkeit. Toussaint übermittelt uns eine diffuse Drohung. Wir werden verfolgt, vor unserem Haus steht ein Mann nachts im Regen und er fotografiert eindeutig zu unserem Fenster herauf. Ich eile mit Detrez um die Welt, mache mit ihm das Licht an und schaue in jede Ecke der Wohnung, bevor ich den Mantel ausziehe und mich immer noch nicht sicher fühle. Manipuliert und in die Falle gelockt, ich kann das Gefühl nicht abschütteln verfolgt zu werden.
Der Teufel muss uns geritten haben, und zwar im Galopp, als er uns eingab diesen USB-Stick an uns zu nehmen und nicht nur das, wir haben sein Innenleben gesehen und wir haben verstanden! Spannend entfaltet diese Geschichte einen nahezu magischen Sog. Trotz des für mich abstrakten Themas der Blockchain-Technologie überfordert mich der Autor zu keiner Zeit. Im Gegenteil, ich lerne. Über Bitcoins, das Mining und über die menschliche Natur. Das Landei in mir staunt, über das, auf das wir uns da künftig werden gefasst machen müssen. Ach was sag ich, künftig, mit hoher Wahrscheinlichkeit, findet das so ähnlich schon heute statt und wir sind schon längst mittendrin statt nur dabei. In dieser Zeit, die dabei ist uns zu überholen und wir müssen uns fragen, werden wir es noch schaffen, sie zu durchdringen, ihr hinterher kommen?
Chronologisch erzählt, durch Rückblenden gestützt, clever und gut konstruiert ist Toussaints Plot. Er findet Bilder, die mich schmunzeln lassen, z.B. als sein Held die Geduld verliert und eskaliert, das angesichts eines diebstahlsicheren Kleiderbügels in seinem Hotelzimmer und ich sehe mich, wie oft ich schon an eben so einem Ding verzweifelt bin. Gegenwärtig ist er und ein sehr genauer Beobachter.
Als ich über diesen Roman las, musste ich zu allererst an unseren Datenschutzbeauftragten denken, der uns im Rahmen einer Schulung die Frage gestellt hat, was wir wohl meinen, wie viele sich nach einem auf dem Parkplatz liegenden USB-Stick bücken, ihn aufheben und dann auch in ihrem PC auslesen würden. Die Neugier ist ein mächtiger Treibstoff, das ahnten wir schon und Toussaint nutzt sie um seine Geschichte zu befeuern.
Von konspirativen Treffen in düsteren Hotelbars. Von Ahnungen, Vertrauen und Machbarkeitsstudien. Von der Zeitverschiebung behindert, sieht sich Toussaints Held völlig kopflos mit ihr konfrontiert. Wie dünnhäutig er plötzlich ist, wie verletzlich er wirkt. Die sich leise anbahnende und befürchte Katastrophe nähert sich, dann aber von ganz anderer Seite …
Dieses war mein erster Streich von Toussaint, aber sicher nicht mein letzter. Umschauen werde ich mich, was seine anderen Texte anbelangt, in welche Gedankenwelten er da entführt. Wie präzise und nachvollziehbar er erklären kann. Wie sachlich und leicht er schreibt. Ich bin heilfroh einer Empfehlung in diesen Roman gefolgt zu sein und ihn und diesen Autor so entdeckt zu haben. Selbst hätte ich ihn wohl nicht von einem Büchertisch und mitgenommen.
Wie kann man augenzwinkernd und zugleich fesselnd schreiben? Unterhaltsam und lehrreich. Wie kann man einen bürokratischen Apparat unauffällig anprangern, so viel Informationen in eine Geschichte packen, wie man sie sonst nur in einem Sachbuch findet, dann eine 180 Grad Wende einbauen und die aufgebaute Tarnung mit einem Federstreich auffliegen lassen? Das klingt wie ein Kunststück findet Ihr? Das meine ich auch. Wie das geht, müsst ihr ihn aber schon selbst fragen, den Monsieur Toussaint, er kann’s nämlich und ich fand’s großartig!
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