Dienstag, 26.12.2017
Die Liebe zu Märchen, sie wird einem als Kind eingepflanzt. So war es bei mir. Oft geschieht dies durch Vorlesen. Oft hat es mit den Großeltern zu tun. Was gibt es auch schöneres, als wenn einem eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen wird? Wie spannend es ist in einem Bilderbuch später die ersten Geschichten selbst zu entdecken, die ersten Buchstaben zu Wörtern, zu Sätzen zusammenzusetzen. Eine Geschichte für sich zu erobern.
Heute sitzt zwar niemand mehr auf meiner Bettkante und liest mir etwas vor. Meine Geschichten erlese ich mir schon lange selbst. Lache und weine mit Figuren, die mir bisweilen so bekannt wie meine Nachbarn vorkommen.
Was ist denn dann eigentlich ein modernes Märchen, wenn keine Fabelwesen oder andere mystische Gestalten darin vorkommen? Was kann daran märchenhaft sein, wenn sich diese Geschichten um Menschen aus Fleisch und Blut drehen, die ihr Leben meistern müssen, so wie wir. Denen das Schicksal in die Parade fährt, denen der Tod begegnet.
Ich würde mal sagen, ein modernes Märchen braucht eine Zutat ganz bestimmt: Ein Happy End!
Bereits in Didierlaurents erstem Roman, “Die Sehnsucht des Vorlesers” steckte eine unerhörte Idee. Wie unerhört würde hier wohl der Wunsch des Monsieur Dinsky sein? Also, meine Neugier war geweckt:
Der unerhörte Wunsch des Monsieur Dinsky (Jean-Paul Didierlaurent)
Thatanopraktiker. Das war also aus dem Sohn des hochdekorierten Mediziners geworden. Ein Einbalsamierer, ein Leichenpräparator! Verächtlich hatte sein Vater ihm diese Worte ins Gesicht gespuckt und ihn hinausgeworfen. Sein Studium hatte eraufgegeben?! In seinen Fußstapfen hatte der Vater ihn gesehen, ein anerkannter Mediziner hätte aus ihm werden sollen, nicht DAS!
Bei seiner Großmutter fand er Asyl. Sie stellte keine Fragen, konnte nachvollziehen was den knapp zwanzigjährigen antrieb. Sie wusste, sein Vater lag falsch, denn wenn ihrem Enkel eines wichtig war, dann die Würde eines Menschen und diese wollte er bewahren, auch im Tod. Selbst jetzt, nachdem seine Mutter gestorben war, waren Vater und Sohn immer noch ausser Stande ein Wort miteinander zu wechseln, schien es für Ambroise keinen Weg zurück in sein altes Zuhause zu geben …
Textzitat S. 56: “Am Tag der Beerdigung hatten sich Vater und Sohn am Rand des Grabes gegenübergestanden, aufrecht, aber ganz betäubt, und den Graben zwischen ihnen betrachtet, der viel mehr als die sterblichen Überreste einer Mutter oder Ehefrau enthielt.”
Manelle leerte Nachttöpfe aus, putzte, bügelte, kaufte ein, hörte zu, spielte Scrabble mit ihren Leutchen. Ihr Job in der Seniorenhilfe, den ihre Chefin so sehr auf Effizenz getrimmt hatte, das Manelle ganze 47 Minuten je Besuch blieben, machte ihr trotzdem Freude. Trotz aller Unbill, auch wenn es da einen Monsieur Mauvignier gab, der sie drangsalierte, der täglich einen Fünzig-Euro-Schein an einer anderen Stelle versteckte, der sie so gerne des Diebstahls überführt hätte. Denn zum Ausgleich gab es ihn, Monsieur Dinsky. Der 82jährige brachte die Sonne in ihren Tag. War für sie mittlerweile mehr wie ein Verwandter, denn wie ein Kunde …
Textzitat S. 1:”Sie denken daran, meinen Topf ordentlich zu leeren, Mademoiselle.” Womit er ihr unterschwellig unterstellte, dass sie seinen Topf normalerweise nicht ordentlich leerte. Dabei dachte Manelle an nichts anderes, wenn sie hierher kam, nur an diesen mit blasslia Blumen verzierten Emailtopf, den sie jeden Morgen vom Schlafzimmer zur Toilette bringen musste, um den Inhalt – das Ergebnis einer Nacht mit prostatischen Störungen – in die Kloschüssel zu kippen.”
Jean-Paul Didierlaurent, geboren 1962 in Bresse, arbeitet bei einem Telekommunikationsunternehmen – so kann man es im Klappentext nachlesen. Vielleicht haben seine Geschichten deshalb immer auch mit der Kommunikation zu tun. Von seinem begeisternden Debüt “Die Sehnsucht des Vorlesers”, in das auch ich mich aus dem Stand verliebt hatte, habe ich Euch auf meinem Blog schon erzählt. Die Wärme, die Unverstelltheit seiner Figuren, die leichte Feder mit der Didierlaurent schreibt, wirkt auch in seinem neuen Roman. Sein Monsieur Dinsky ist ein lebenskluger Schlingel. Seine Manelle schlagfertig, Ambroise sensibel und Großmutter Beth backt einfach die besten Kuchen …
Diese Geschichte hatte sich vierzehn Tage vor Weihnachten, als ich seinen Debütroman kaufte um ihn zu verschenken, im Laden an meine Fersen geheftet. Ganz automatisch war er in meinem Einkaufsbeutel und wie von selbst ganz oben auf meinem SuB gelandet. Als habe er sagen wollen – lies MICH vor Weihnachten. Recht so! Leicht märchenhaft mutet er tatsächlich an, nein keine Angst, da schweben keine Engel rum, oder es wird sonst wie esoterisch. Sein Roman wärmt einfach, ist herrlich optimistisch, vielleicht ein klein wenig kitschig – okay. Aber – das tut jetzt gerade einfach mal nur gut …
Dabei ist das Thema mit dem er einsteigt, alles andere als feengleich. Die Kunst des Einbalsamierens hatte ich für mich ins alte Ägypten verschoben, dass es hier in unserem Nachbarland Frankreich ein Traditionsberuf ist, war mir so gar nicht bewußt. Die Beweggründe Didierlaurents, wie er sie in seiner Danksagung schildert, diesen Beruf einmal aus dem Verborgenen zu lösen, kann ich dagegen sehr gut nachvollziehen. Das ihm dies so überzeugend gelingt, liegt sicher daran, dass er einen Freund hat, der diesen Beruf ausübt und den er dabei begleiten durfte. Das was unser Autor dabei erlebte und empfand gibt er sehr berührend an uns, seine Leser weiter. Er bezeugt diesem Berufsstand einen großen Respekt dem Tod und den Toten gegenüber.
Auch wenn dieser Roman sich für mich nicht ganz mit der “Sehnsucht des Vorlesers” messen kann, hat er mich bestens unterhalten. Ja, und auch mit einer Träne im Knopfloch die letzte Seite umblättern lassen …
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