Sonntag, 28.01.2017
Bewölkt war es gewesen und es hatte leicht genieselt, an diesem Morgen, als Andreas und ich vor einigen Jahren beschlossen hatten im Urlaub doch, dem Wetter zum Trotz, an diesem Tag in die Breitach-Klamm aufzubrechen. Das erste Stück des Weges vom Besucherparkplatz aus führte harmlos über Wiesen an einem Wildbach entlang, der klar und munter über die Steine im Bachbett sprang. Nach einer kurzen Wegstrecke umschloß uns plötzlich ein Waldstück, es wurde dunkler und kühl, das Tal verengte sich und die ersten Felswände tauchten vor uns auf.
Dunkel, glitschig und regennaß waren jetzt die Steine unter unseren Füßen. Zwischen den engen Felsspalten hindurch war das Tosen des Wassers zu hören, feine Wasser-Tröpfchen glitzerten in der Luft, als sich die Sonne kurz durch einen Spalt zwängte. Die Aussichten von den Holzbohlenstegen aus in die Tiefe spektakulär, beinahe wie in den großen amerikanischen Canyons. Hinter jeder Biegung meinte man in den ausgewaschenen Steinen Fratzen und Gesichter zu erkennen. Platzangst durfte man hier, wo Stahlseile und Haken über Engstellen halfen, keine haben, trittsicher und schwindelfrei musste man sein.
Das Foto im Einstieg und diese beiden im Text hier eingebetteten habe ich damals geschossen, und sie jetzt nach dem Genuß dieser Geschichte noch einmal heraus gekramt:
Der Tod so kalt (Luca D’Andrea)
15. September 2015. Die Lawine hatte sich Manni geholt, und mit ihm den Helikopter. Alles war so rasend schnell gegangen. Der Pilot hatte nicht mehr rechtzeitig das Seil kappen können, an dessen Ende er hing um zu Salinger und der verletzten Frau in die Gletscherspalte abzusteigen. An der Bergflanke war er zerschellt, der rote Hubschrauber der Bergrettung, als wäre er ein Spielzeug aus Plastik. In der Folge war für die Dorfbewohner von Siebenhoch glasklar, wer an diesem Drama die Schuld trug – Salinger. Der eigensinnige Dokumentarfilmer, der darauf bestanden hatte auf den Grund der Spalte mit abgeseilt zu werden, um diese Rettungsaktion auch ja intensiv genug einfangen zu können. Nein, man war nicht bereit ihm das zu verzeihen und auch nicht, das er, der Schuldige, überlebt hatte …
28. April 1985 – Schwergewitter waren in den Dolomiten nicht selten. Dieses hier aber, “die Mutter aller Schwergewitter” wütete nicht wie sonst ein bis drei Stunden, sondern sechs Tage lang mit Orkanstärke. Jeremiah Salingers Schwiegervater Werner war damals im Einsatz gewesen, in dieser verhängnisvollen Nacht in der Bletterbach-Schlucht, wo das Gewitter am schlimmsten tobte und wo Evi, Klaus und Marcus vermisst wurden. Einige tausend Blitze waren in der Stunde niedergegangen, sindflutartige Regenfälle lösten Schlamm- und Geröll-Lawinen. In dieser Hölle aus Blitzen, Wasser und Schlamm, in dieser Schlucht, die eine so offene Feindseligkeit ausstrahlte, hatten vier erfahrene Bergretter nach den drei jungen Leuten gesucht. Die Angst war ihnen in die Knochen gekrochen. Von ihrer Erschöpfung befeuert, versuchten sie die Stimmen in ihren Köpfen zu ignorieren, die ihnen eingegeben hatte die Suche endlich aufzugeben.
Ein Schrei hatte die Luft zerschnitten. Er war aus Hannes, aus einem der Retter, heraus gebrochen. Markerschütternd, waidwund. Allen hatten sich die Nackenhaare aufgestellt. Keiner von ihnen war mehr fähig gewesen auch nur noch einen Finger zu rühren, als sie dieses Anblicks gewahr wurden. Arme und Beine fehlten den Opfern, die Zeltwände zerschlitzt und Evis Körper fehlte der Kopf …
Fast eine Woche lang war danach das kleine Örtchen Siebenhoch von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Strom, kein Telefon …
Luca D’Andrea – der erste Thriller des Südtiroler Lehrers wurde aus dem Stand zur Buchbranchen-Sensation, kann man bei seinem Verlag nachlesen. Die Rechte daran wurden in 35 Länder verkauft, niedergeschrieben hat D’Andrea ihn nach Recherche und Idee in nur 28 Tagen.
Die Südtiroler Bergwelt seiner Heimat in aller Schönheit, Rauheit und mit ihren Legenden und Mythen um verschollene Volksstämme, ausgestorbene Arten, zurückgezogene Dörfler, einen alten Streit zwischen Deutschen und Italienern wählt D’Andrea als Schauplatz.
Die Bletterbachschlucht wird so zum Hauptdarsteller mit einem Eigenleben. UNESCO Weltkultur-Erbe, der “Grand-Canyon Südtirols” mit 8km Länge und 400m Tiefe, 60.000 Besucher pro Jahr, Freilicht-Fossilien-Museum. Erdgeschichtlich einzigartig, rauh, geheimnisoll und Jahrmillionen alt, ein geologisches Lehrbuch zum Anfassen. Am liebsten wäre ich sofort dorthin aufgebrochen, so sehr haben mich Neugier und Faszination gepackt!
Die Anfänge der Bergrettung Dolomiten 1965 inklusive – alle Einsätze wurden damals noch zu Fuß absolviert, Verletzte und/oder Tote wurden auf dem Buckel ins Tal geschleppt.
Wer viel liest, weiß es besonders zu schätzen, wenn eine Geschichte noch überraschen kann. Mir ist es hier so ergangen. Dem Titel nach ein “normaler” Thriller, der Klappentext verspricht Mystery-Elemente, Genre-Schublade auf und rein damit. Aber weit gefehlt! Dieser Autor kann mehr, er erzeugt eine Grundstimmung, die von Beginn an zu fesseln versteht, einen Satz um Satz weiter treibt, mit bösen Vorahnungen im Nacken. Geschickt wird die reale Kulisse des Bletterbachs mit einer fiktiven Geschichte verwoben, die so hätte durchaus passiert sein können. Was war tatsächlich passiert in dieser Gewitternacht am Bletterbach? Auch dreißig Jahre danach liegt diese Bluttat im Dunkeln.
Grandios spannend baut D’Andrea seine Geschichte Stein um Stein auf. Läßt uns dabei immer mit seinem Helden Jeremiah Salinger auf Augenhöhe sein, wenn es um den Erhalt von weiteren Mosaiksteinchen, um den Erhalt von Informationsfundstücken geht, ähnlich einer Ausgrabung. Aber auch am inneren Kampf von Salinger, am Ringen mit seinen Dämonen läßt er uns teilhaben. Wir fiebern und leiden mit ihm, werden hin und her geworfen zwischen der Verpflichtung die er seiner Familie gegenüber empfindet und dem was für sein eigenes Seelenheil überlebenswichtig ist, während ein ganzes Dorf schweigt, den Blick auf Fremde schwarz weiß eingefärbt.
Dramatisch spitzt sich die Handlung zu, zeigt der Plot auf, wie aus einer Spontanentscheidung großes Unheil erwachsen kann. Man im Nachhinein damit leben muss, in aller Konsequenz und mit aller Kraft.
D’Andrea zieht in der Dramaturgie alle Register, stützt wendungsreich seinen Spannungsbogen, macht uns traurig, wehmütig, läßt uns schlittenfahrend aufjauchzen um uns dann, kurz darauf wieder ins nächste Höllental zu schicken. Dabei immer mit der Stablampe menschliche Abgründe, Vorurteile und Feindseligkeiten, aber auch Familie, Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt ausleuchtend. Und über all dem – das ewig Böse?
In dieser Geschichte kann man eine blitzgescheite, liebenswerte fünfjährige an die Hand nehmen, durch ihre Augen unverstellt die Welt entdecken. Aber auch geduckt und verletzt in einer Gletscherspalte kauern, unterhalb schimmernder Oberflächen, umfangen von plötzlicher Dunkelheit Naturgewalten hautnah miterleben, sich klein und unbedeutend fühlen, Wahnsinnigen begegnen, absteigen in der Zeit und in die Höhlen unter der Bletterbach-Schlucht im Winter. Der Schluchtgrund vereist, darunter grummelnd ein Bach …
Ein neuer Roman von ihm wird im zeitigen Frühjahr diesen Jahres veröffentlicht – wenn das kein Grund zur Vorfreude ist! Auf meiner Merkliste hat er einen Spitzenplatz eingenommen! Das auf jeden Fall wieder als Hörbuch und zwar wegen ihm:
Matthias Köberlin – atemlos lausche ich ihm hier, Satz für Satz, Kapitel um Kapitel. Er haucht und poltert, jagt mir Schauder über den Rücken, treibt mir die Tränen in die Augen, läßt die Bletterbach-Schlucht vor meinem geistigen Auge auferstehen. Das ist Kopfkino pur! Donna Tartts “Distelfink” hatte ich mir schon von ihm vorlesen lassen, ein ganz ein anderer Stoff, den er auch erstklassig interpretiert. Ja, hier beweist er, er kann auch Thriller und das auf eine ganz besonders tiefgründige, unter die Haut kriechende Art und Weise. Ich fürchte ja, seine Stimme hat Widerhaken, denn ich kriege sie gerade nicht mehr aus dem Ohr – im positivsten aller Sinne!
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