Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens (Oliver Bottini)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 29.04.2018

Der Wald und ich, wir haben da eine ganz besondere Bindung. Als Kind und als Jugendliche war ich fast jeden Tag hier, auch schon mal „mit ohne“ Schuhe, den weichen Waldboden unter den Fußsohlen abtastend. Als Erwachsene und in meinem Alltag schaffe ich es mittlerweile viel zu selten zwischen dichten Bäumen zu stehen, den Kopf im Nacken und dem Rauschen in den Kronen zu lauschen. Nur hier bricht sich das Licht auf diese besondere Weise, knistert es geheimnisvoll im trockenen Laub. Riecht es so wunderbar erdig, feucht und fruchtbar. Selbst wenn er dicht und dunkel, und mir ein bisschen bang wird, mein Herz bis zum Hals schlägt bei dem Gedanken es könne gleich ein Wildschein um die Ecke biegen und mich überrennen, genieße ich es. Tanke auf. Meinen Wohnort habe ich stets danach entschieden, ob ich fußläufig in einen Wald kommen kann. Hier bin ich bei mir, staune und kann durchatmen …

Wenn ihr diese Sätze lest, glaubt ihr mir wahrscheinlich sofort, dass das Lesen dieses Romans für mich zunächst eine Cover-Entscheidung war. Dann kam die Neugier dazu, schließlich hat er den deutschen Krimipreis 2017 gewonnen. Und ja, stille Winkel hat es auch in meinem Leben schon gegeben und den Tod leider auch. Die Großeltern, den Schwiegervater, Vater, Kollegen, Mitarbeiter und auch einen Chef habe ich schon beerdigen müssen. Still wurde es dann immer, um mich herum und in mir drin.

Was steckt wohl für Oliver Bottini hinter diesem Satz? Schon sein Prolog lädt ein, das herauszufinden, ist kraftvoll und verstörend zugleich:

Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens

2011 – auf dem Weg nach Dänemark. Plötzlich war da dieser Sand. Überall. Mitten in Mecklenburg-Vorpommern?! Die Windböen peitschten die feinen Körner so heftig über die Autobahn, das die Sicht gegen Null ging. Er bremste scharf ab, trat das Pedal ganz durch, als die roten Rücklichter der vor ihm fahrenden Autos rasend schnell auf ihn zukamen. Die Airbags waren nach dem Aufprall so schnell wieder in sich zusammen gefallen, wie sie sich geöffnet hatten. Die Kinder auf dem Rücksitz schrien im Schock. Die kleine Emmy griff nach dem Türgriff – Nein, nur nicht aussteigen! Verzweifelt kämpfte er sich aus dem Fahrersitz, die feinen Körnchen nahmen ihm sofort nicht nur die Sicht, sondern auch den Atem. Es schmeckte nach Erde und er begriff, das war kein Sand, das war feiner Ackerboden. Als er den Schatten wahrnahm, die LKW Hupe hörte, laut und anhaltend, presste er sich die Hände fest auf die Ohren. Der Sturz erwischte ihn rücklings, nur mühsam kam er hinter der Leitplanke auf dem Mittelstreifen wieder auf die Beine, wo war sein Wagen? Die Kinder, Claudia? Die Sandwand war undurchdringlich. Erst spürte er eine dumpfe Explosion, dann sah er die Flammen …

2014 – Temeswar/Rumänien. Von ihrem alten Handel, dass er keine Mordermittlungen mehr leiten würde, wollte sein Chef heute nichts mehr wissen. Er brauche ihn, ihn seine Erfahrung, seine Besonnenheit und – seine Deutschkenntnisse, war nicht seine Mutter eine Deutsche? Die Tote eben auch, erst achtzehn war sie, die Tochter eines Großgrundbesitzers, offenbar in blinder Wut niedergemetzelt von zahlreichen Messerstichen. Nackt hatte man sie in der Nähe eines Flusses gefunden, wo sie offenbar hatte schwimmen wollen. Cozma solle sich zusammenreißen, seinen trunksüchtigen Partner Cippo einsammeln und endlich losmachen!

Ioan Cozma, Kripo-Kommissar gehorcht widerstrebend und bricht mit dem alten, klapprigen Dienst-Kadett zum Tatort auf, seinen fluchenden Partner im Schlepptau …

Oliver Bottini – viermal hat er bereits den deutschen Krimipreis gewonnen. 2017 erhielt er ihn erneut für „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“.

Dies ist mein erster Bottini, aber sicher nicht mein letzter. Denn dieser Krimi hat den „Blues“ und genau das mag ich. Von der ersten bis zur letzten Zeile hält dieses Gefühl in mir an. Trist, hoffnungs- und perspektivlos. Übervorteilt, verwundet und vernarbt präsentiert Bottini ein Bild des modernen Rumänien, das nachdenklich macht.

Rumänien als Speisekammer der arabischen Welt? Mit dieser Fragestellung hatte ich mich noch überhaupt nicht beschäftigt. Kopfschüttelnd erlese ich mir hier Machenschaften, von denen ich nicht das Geringste geahnt habe, tauche ein in ein Land, dass von seinen politischen Wirren schwer gezeichnet ist.

Kleinbauern und diejenigen, für die die Erde und das was sie hervorbringt sinnstiftend ist, werden durch Korruption, Gewinnsucht und Spekulanten um Hab und Gut gebracht. Der Boden ausgelaugt durch Monokulturen und exzessive Bewirtschaftung. Riesige Flächen erbarmungslos ausgebeutet, erodiert, lassen Sandstürme mit verheerenden Folgen entstehen.

Seinen Kriminalfall baut er raffiniert auf, schickt uns als Leser auf eine Fährte, der alle gleich folgen, weil sie ja so auf der Hand liegt. Läßt uns rätseln und ermitteln, zweifeln und verzweifeln auf der Suche nach der Wahrheit …

Die Zerissenheit seiner Figuren, ihre Dämonen, inneren Kämpfe und die Erkenntnis, dass man in allen entscheidenden Momenten des Lebens meist allein ist, wirken nachhaltig in mir, wühlen mich auf.

Müde und erfüllt von einer tiefen Sehnsucht nach Zuwendung und innerem Frieden zeichnet er seinen Helden Ioan. Ich trauere und hadere mit Bottinis Charakteren, allen voran Maik Winter, der seine kleine Familie bei einem Unfall verliert. Mit Ana stehe ich am Rand von Massengräbern, um Fassung ringend und mir die Frage stellend, ist es diesmal ihre Familie die wir auf dem Grund der Grube finden werden? Ich verliere einen Freund an eine skrupellose Organisation, vor meinen Augen haben sie ihn barfuss an ein Auto gebunden, und durch die Straßen gezerrt, bis er nur noch ein blutiges Bündel war.

Selbst bei einer Demo, wie Don Quichote im Kampf gegen Windmühlen, versuche ich gemeinsam mit Anett die Übermacht der Agrar-Gauner aufzuhalten. Lerne dafür sogar das Traktor fahren.

Mit Maiks Vater schwimme ich, all meine Kleider am Leib im See, stehe triefend bei seiner Christel in der Küche, bis sich Wasserpfützen um meine nackten Füße bilden. Auch diesmal ist es uns nicht gelungen den Kummer zu ersäufen, die Schuldgefühle abzuwaschen, das Vermissen zu ertränken …

Sprachlich präzise, aber nie kalt, sondern sachlich, klar und klarstellend erzählt Bottini. Bei allem „Blues“ – Hoffnungsfunken und ein unerschütterlicher Glaube an das was menschlich und gut ist, der Glaube an Zusammenhalt und Freundschaft, keimen selbst auf diesen ausgelaugten Böden, zwischen seinen geschundenen Helden, wenn auch als kleines zartes Pflänzchen.

Meine Einstiegsfrage, ob Oliver Bottini und ich die gleichen Gedanken im Sinn hatten bei der Betrachtung des Titels, würde ich mir nach dem Umblättern der letzten Seite seines Romans so beantworten: Seine Figuren und mich eint ein Gefühl der Einsamkeit, das einen immer dann befällt, wenn man lebensverändernde oder wegweisende Entscheidungen zu treffen hat. Das und die Kraft, die es braucht Rückschläge, Schicksalsschläge zu meistern in den stillen Winkeln unseres Lebens …

 

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