Der Sommer mit Ellen (Agnete Friis)

Rapsfelder soweit das Auge reicht. Ein wogendes Meer aus leuchtend gelben Blüten. Ich träume mit offenen Augen von einem Sommer, der mit einer Reise auf mich wartet. Einer Reise, die mich an fremde Ufer führen wird, an denen neue Eindrücke auf mich warten. Von einem Sommer, an dem mich mein Feierabend in die Eisdiele führt, zusammen mit meinem Mann. Wo ich den Tag mit minzigem Schokoladengeschmack im Mund beschließen kann. Wir werden sehen, wie der Sommer wird, der in diesem Jahr vor uns liegt, und im nächsten. Ob mich ein Schiff dann wieder fortragen darf. Bis dahin, schaue ich zurück auf die Sommer an die ich mich noch erinnere und mit dieser Autorin hier auf einen Sommer, an den nicht alle gerne zurück denken …

Der Sommer mit Ellen von Agnete Friis

Nach vierzig Jahren ein Anruf. Von seinen Großonkeln. Anton und Anders brauchen Jakobs Hilfe. Vierzig Jahre war er nicht mehr bei ihnen gewesen. Dort. Auf dem Hof. Auf dem Land. Er hatte nicht mehr dorthin gewollt. Nach dem Sommer ’78. Jetzt wollten sie Ellen finden? Er sollte sie aufspüren?

Warum jetzt? Damals, 1978, hatte sie einen Sommer lang bei ihnen gewohnt. Nein, sie war auf ihrem Hof unter gekrochen, auf der Flucht vor ihrem Freund. Hatte Anders den Kopf verdreht und nicht nur ihm. Mit ihrer Unbeschwertheit. Ihrem Lachen, ihrer Unverstelltheit.

Wer nicht will sucht nach Gründen, wer will sucht nach Wegen und so versucht Jakob, die Unterstützung, die man von ihm erwartet auf seinen Vater abzuwälzen. Der aber wiegelt ab. Nur wenig später erfahre ich, das der wohl mit den Hilfesuchenden immer schon auf Kriegsfuß gestanden hat und nicht nur mit Ihnen …

Agnete Friis, geboren 1974 in Jütland, Journalistin und Autorin, schaffte es mit ihrem Roman “Der Sommer mit Ellen” auf die Shortlist des DR Romanpreises, wurde nominiert für den besten dänischen Roman 2018. Übersetzt von Thorsten Alms, das klar und präzise, erschien er vor wenigen Wochen in Deutsch. Dies ist meine erste lesende Begegnung mit Dänemark und ich war gespannt auf diese Geschichte, der unsere europäischen Nachbarn ein solches Lob vorausgeschickt haben. 

Wohlfühlbuch geht anders. Unbeschwertes Sommerbuch auch. Schon der, wie ich finde, wunderschön gestaltete Schutzumschlag lässt mich ahnen, die Idylle hier hat oder bekommt Risse. Verletzte Gefühle liegen bloß und schutzlos offen liegen auch verwundete Herzen. Hinter Gardinen blitzt die Wahrheit durch, gelupft und zur Seite geschoben wird der Vorhang aber erst gegen Ende. Das kann Agnete Friis nämlich: Warten bis zum Schluss, bis sie die sprichwörtliche Katze aus dem Sack lässt. Sie lässt die Luft flirren, nicht nur durch die Sommerhitze ist die Stimmung wie aufgeladen. Mir schwant schon, da wartet nichts Gutes, und dann setzt sie noch einen drauf. Dann nämlich, als sie den blinden Fleck in der Erinnerung ihrer Hauptfigur zum Aufleuchten bringt. Ich schlucke, also doch … Aber immer der Reihe nach:

Das echte Landleben hat es in sich. Hier werden Hühner geköpft und Schweine begattet, Ställe ausgemistet und gekalkt, es wird angepackt. Es stinkt und es ist dreckig. Ohne Gummistiefel geht hier auf dem Hof nichts.  Jakob ist sechzehn oder siebzehn gewesen, in diesem Sommer vor vierzig Jahren, in dem Sommer in dem er Ellen begegnet ist. Jakob war jung in diesem Sommer und Dummheiten gehören in dem Alter dazu. Nicht? Verliebt war er, vielleicht zum ersten Mal. Das die Frau, die es traf deutlich älter war als er, war nicht geplant. War so. Ist halt so passiert.

“Er und das Haus begannen zu versanden, sobald meine Mutter die Tür hinter sich zugezogen hatte. Die Pflanzen auf den Fensterbänken starben, der Abwasch stank tagelang, und der Lebensrhythmus löste sich auf.”

Textzitat Der Sommer mit Ellen Agnete Friis

Auf zwei Zeitebenen erzählt Friis und ich erfahre, wie Jakob aufgewachsen ist. Von seiner Mutter, die weil der Vater trank, immer wieder ihre Koffer gepackt hat. Erfahre von diesen Intermezzi ohne sie. Von Ferien auf dem Bauernhof mit Mist an den Stiefeln, Blasen an den Händen und “Rücken” vom Kartoffeln sammeln. Und ich erfahre von diesem einen Sommer, dem Sommer, der alles veränderte.

Vorsicht. Hier wartet kein Bullerbü – Idyll, kein sommerlich leichtes Abenteuer, das man eben mal so abhakt und vergisst. Friis idealisiert nicht und romantisiert nicht. Zeichnet kein heiles Vintage-Paradies auf dem Land, und genau das hat mir gefallen. Das ist herrlich echt und unverstellt. Die Autorin gibt an, zwischen 1970 und ’80 selbst in einem solchen Milieu aufgewachsen zu sein, alle gezeichneten Figuren seien allerding rein fiktiv. Vielleicht ist ihr dieser Roman aber deshalb so griffig gelungen. 

Sie leitet ihre Geschichte mit einer Trostlosigkeit ein, die nicht nur der aktuellen Wohnsituation ihrer männlichen Hauptfigur geschuldet ist. Als ich ihm begegne gebärdet er sich wie ein Stalker. Bis ich erfahre seine Frau hat ihn raus geworfen und er, der nach Kontakt sucht und Klärung, stößt auf Unverständnis und Weigerung. Warum ist noch offen, einvernehmliche Trennungen sehen allerdings anders aus.

Auf was für einen Typen habe ich mich da jetzt eingelassen? Ich dachte es geht um Ellen und das tut es dann auch. Wenig später schon, in der ersten Rückblende und dann immer wieder.

Eine Hippie-Kommune am Rande des Ortes, vermutlich alle Kommunisten, sagen sie. Joints rauchend. Den Jungs Flöhe in den Kopf setzend? Lise, die Tochter des Hühnerbauern, verschwindet in diesem Sommer, eine Suche beginnt und Anders, der Bruder von Jakobs Großonkel Anton, der anders ist, gerät unter Verdacht.

Schwachsinnig ist er. Es sei ja aber auch eine Schande gewesen, als seine Mutter ihn mit sechsundvierzig Jahren zur Welt gebracht habe. In so einem Alter nochmal schwanger werden, das ging doch nicht. Das er jetzt so war wie er war – kein Wunder das! Fernhalten musste man sich von ihm. Nicht geheuer war er den Eltern, vor allem weil er immer ein Auge auf die Mädchen hatte, auf die ganz jungen auch.

“Irgendetwas war in der Atmosphäre eingeklemmt. Nach Tagen mit kaltem Regen und Wind war die Wärme zurückgekehrt und hatte sich schwer über die Felder gelegt. Die Sonnenstrahlen trafen weiß und stechend auf die nackte Haut.”

Textzitat Der Sommer mit Ellen Agnete Friis

Eine Hitzewelle liegt drückend schwer auf dem Land. Es hat Raupen im Kohl, die sich raschelnd und knisternd durch die Blätter fressen. Gerüchte und Gewalt. Geheimnisse? Reichlich. Bremsen, stechende, ganze Schwärme von ihnen. Gespannte Euter, aufziehende Gewitter. Die Hände aufgerissen, blaue Flecken, vom Kampf mit schwergewichtigen Kühen, die einen in Panik am Wassertrog einklemmen.

Und jetzt? Nach all den Jahren? Die Hauptfigur Jakob, mittlerweile selbstständiger Architekt mit Familie, dessen Ehe in der Krise steckt, verbirgt etwas. Da bin ich mir sicher. Offenbar geht es dabei nur um eine einzige Nacht in 1978. Soweit habe ich mich schon vorgetastet mit Agnete Friis. Einen manchmal derben Ton, eine harte Gangart schlägt sie an und ein. Dann wieder ist sie fast poetisch sanft, mit Sätzen, die ihre ländliche Szenerie beschreiben. Sie formuliert gekonnt und ausgewogen. Fordert ihren Übersetzer mit dieser Balance heraus. Sie scheint mir wie mit diesem Land verwachsen zu sein, und doch ist dies bei weitem kein Heimatroman. Denn ihre Hippies von einst sind heute teils erfolgreiche Geschäftsleute und einer von ihnen mauert. Immer noch. Was das Zeug hält. Womit hält er hinter dem Berg? Es drängt mich zur letzten Seite und dann, ist sie da, endlich. Wie ein Gewitter, reinigt sie die Luft …

“Eitelkeit ist wahrhaftig eine Sünde, die ihre Strafe in sich selbst trägt.”

Textzitat Agnete Friis Der Sommer mit Ellen

Mein Dank geht an den Eichborn Verlag, für dieses Rezensionsexemplar.

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