Der Halbbart (Charles Lewinsky)

Brot und Spiele hieß es schon im Alten Rom. In Arenen wurde das Volk bespaßt. Mit Kämpfen. Mit Strömen von Blut. Der erhobene Daumen des Kaisers wurde eingesetzt als Richterspruch, sprach das Urteil über Leben und Tod.

Im Mittelalter waren Hinrichtungen öffentliche Spektakel, Vernehmungen mit Folter ebenfalls. Der Pranger eine Kurzweil für Jedermann. Scheiterhaufen und Hexenverbrennungen ein Schauspiel für das man keinen Eintritt zahlen musste. Menschen sind schlimmer als Wölfe, denn die töten nur, wenn’s hungrig sind. Sagt der Halbbart hier im Roman und er muss es wissen, denn er hat die Menschen von einer Seite kennengelernt wie wir es niemandem wünschen und die Narben davon trägt er nicht nur auf seiner Seele …

“Wer sich verläuft in seinem Traum, stößt sich den Kopf an jedem Baum.”

Textzitat Charles Lewinsky Der Halbbart

Der Halbbart von Charles Lewinsky

Wie der Halbbart ins Dorf gekommen war. Da gibt es Geschichten, die glaubst Du nicht. Ein Flüchtling war er und um Ostern herum war er aufgetaucht, seine Züge halb verbrannt, es wuchs ihm kein Haar mehr, da gab es nur Narben, in der einen Hälfte von seinem Gesicht.

Der Sebi ist der, der uns die Geschichte erzählt. Der war nicht gemacht für das Soldatenleben. Aha. Und auch nicht für die Feldarbeit. Oha. Was schwierig war damals in der Talschaft Schwyz, weil davon gab es hier reichlich. Feldarbeit halt. Geschichten, die hatte er gerne. Geschichten von Engeln, von Tod und Teufel.

Als er den Halbbart kennenlernte war er sofort Feuer und Flamme, denn der konnte lesen, das war dem Sebi gleich aufgefallen. Vielleicht hatten sie ihm das ja im Kloster beigebracht? Dort lehrten sie einen das nämlich, und dort wär der Sebi auch gern. 

Er kennt sie alle hier im Dorf, der Sebi. Den, der fast ein Zimmermann ist und der auch Knochen richten kann, denn einen Bader oder gar einen Physikus den haben sie hier nicht. Den reichsten Mann im Ort und seinen Sohn. Die Zwillinge, die sich um das Vieh kümmern, wenn was nicht stimmt und manchmal auch um die Menschen, wenn sie krank sind. Die sich mit Heilkräutern auskennen. Sowie der Sebi, der weiß wo sie wachsen.

Ein Unfall, ein verletzter Bruder, der Wundbrand holt sein Bein und er fantasiert im Fieber. Der Sebi holt beim Halbbart Rat und dann wird amputiert, auf einem Tisch in der Sonne, vor dem Haus. Weil man dort besser sieht und weil man die Sauerei ja nicht im Haus haben will …

Brutal und ungeschönt, zeichnet Lewinsky diese Szenen nach. Das Schlimme und gleichzeitig das Faszinierende daran ist die Glaubwürdigkeit, die jeder seiner Sätze transportiert. Das sind wahrlich auch, lässt er den Sebi sagen, “keine Momente für Werktagsworte“.

Aberglauben, unheimliche Geschichten und ein begrabenes Bein. Wo das Faustrecht regiert, haben schlechte Verlierer leichtes Spiel.

Ein Leben im Kloster, so romantisch ist es dann doch nicht. Muss der Sebi lernen als er dort landet. Im Gegenteil, es lässt ihn an Flucht denken und dann reißt er auch tatsächlich aus. 

Als Lehrbub landet er hernach bei einem Schmied, aber der Sebi hat zwei linke Hände, macht viel zu viele “besoffene Nägel”.

Angeln zwischen Seerosen. Ein Zufall. Ein Lauscher an der Kirchenwand erfährt von der eigenen Familienschand. Es geht um dem Sebi seinen Bruder und um einen Überfall, einen schändlichen.

Ein Hitzkopf. Mit Ruß angemalte Gesichter. Es geht den Tätern offenbar um einen alten Streit, um einen Streit zwischen Kirche und Gemeinde, um heimlich versetzte Grenzsteine. Was hat der Poli, der große Bruder vom Sebi, jetzt damit zu schaffen? Hoffentlich nix, man müsste sonst Angst um ihn haben. Es riecht nach Verrat. Der eigene Bruder ein Judas?

Charles Lewinsky, geb. 14. April 1946, Schweizer Autor, der mit seinem “Halbbart” auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 und auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2020 stand. Zuletzt hatte er mich mit seinem Roman “Der Stotterer” in der Hörbuch-Fassung begeistert. Sein “Kastelau” und “Andersen” warten schon/noch auf meinem Stapel auf mich.

Derb schreibt Lewinsky im Halbbart bisweilen, so kenne ich ihn gar nicht, passt sich aber perfekt der Ausdrucksweise dieser Zeit an. Gleichzeitig erzählt er seine Geschichte aber auch modern, was wie ein Widerspruch klingt bei einem historischen Roman, aber mir hat das gefallen. Sehr sogar.

Lewinsky ist ausführlich, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, nimmt sich Zeit seine Geschichte zu entwickeln, 688 Seiten umfaßt sie. Wie Einer bei dem man sitzt erzählt er, mal plaudernd, mal beiläufig, immer unterhaltsam.

Wunderbar passen die gewählten Dialekteinsprengsel in den Text und seine wie gezeichneten Szenerien sind so schön stimmig. Es hat einen Dorftrottel, Weisheit, Klatsch und Tratsch, aber auch Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft und Bauernschläue. Schön gestrig formuliert, herrlich finde ich das und schmunzle so manches Mal.

So viel gesehen, so viel erzählt und doch bleibt ein Geheimnis um den Halbbart. Ein Menschenbild nimmt Schaden. Zuviel erlitten, zuviel erlebt. Der Sebi will’s wissen.

“Eine Menge von Menschen ist wie ein großes Tier, und jetzt hat man das Tier fauchen hören.”

Zitat Charles Lewinsky Der Halbbart

Mit dem Teufel im Bunde, so lautet die Anklage und tatsächlich rufen Sie auch einen Zeugen auf der den Teufel leibhaftig gesehen haben will. Denunziation und Verleumdung. Wer anders ist hat kein Recht auf Gemeinschaft, und Eifersucht ist nach wie vor ein starkes Motiv.

Aberglaube, nicht Böswilligkeit bringen einen Menschen in die Bredouille. Ein Wunder, ein von Menschen gemachtes, hauen ihn da wieder raus. Es wogt herrlich hin und her. Kurzweilig und spannend gestaltet Lewinsky eine Gerichtsverhandlung, die geladenen Zeugen sind nicht alle nüchtern und sachlich die wenigsten. Eigentlich nur einer um genau zu sein.

Mit Andeutungen hält Lewinsky die Spannung hoch und in so manch geschilderter Szene sind die Gräueltaten nur schwer aushaltbar. So war das halt in jenen Tagen, die Sonne schien nicht nur auf die Gerechten.

Wenn nach langer Zeit aus einer Frage eine Antwort wird, dann ist das ein gutes Gefühl.

Textzitat Charles Lewinsky Der Halbbart

Sorgen können schwimmen. Man kann sie nicht ertränken. Nicht im Branntwein, nicht in einem Biersee. Die Mutter hatte das schon gewusst und das stimmte auch. Das kann nicht gut gehen, denke ich noch, da geht es auch schon los.

Als Leser kann man miterleben wie ein Bub seinen Platz im Leben sucht und findet. Dabei ist das Kerlchen mir mordssympathisch. Mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, mit seinem Herzen für die, die eher im Abseits stehen.

Streit um Land und Besitz zwischen der Kirche und den einfachen Leut’. Die Volksseele kocht. Der längere Hebel, zu wem der wohl in diesem Fall gehört?

Lebenskluge Sprichwörter, Lebensweisheiten, philosophische und so einiges über das Verhältnis von Volk, Kirche und Staat gibt es zu lernen im Halbbart und Lewinsky zuckt mit keiner Wimper, wenn er die Kirchenoberen dabei nicht gut dastehen lässt. Ein satter, ein opulenter, mit Details getränkter Roman ist so entstanden, der mich wunderbar unterhalten hat zum Ende, da lockt er mich in einen Hinterhalt, einen gemeinen und der Eusebius, der Sebi, wird Chronist.

Am Ende, am Schluss, der wie eine Vollbremsung ist, der aber auch Haken und Ösen hat. Der mich zweifeln lässt, daran was Wahrheit ist und was Lüge. Der die Kernaussage des Romans für mich beinahe auf den Kopf stellt, der mich da stehen lässt mit leeren Händen und vollem Herzen. Potzblitz! Hut ab dafür, was für ein toller Streich!

 

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