Der große Sommer (Ewald Arenz)

Endlich wieder barfuss. Endlich weg mit den Socken. Das noch taufeuchte Gras pur spüren. Den Sommer einatmen, der duftet wie nur Sommer duften kann. Bei mir im Garten nach Rosen, nach Heu auf den Feldern, wenn ich spazieren gehe. Endlich wieder Abende genießen, die mild genug sind um noch lange nachdem die Sonne untergegangen ist draußen zu sitzen, mit einem guten Glas Wein, beim flackernden Licht einer Laterne lesen und den Grillen beim Streiten zuhören. Sommer, jeder hat das Zeug dazu ein großer zu werden meint dieser Autor …

Der große Sommer von Ewald Arenz

Noch zwei Wochen. Zwei Wochen bis zu den Sommerferien. Alles war gelaufen. Alle Noten in der neunten Klasse verteilt. Friedrich, Frieder für seine Freunde, hatte keine guten erwischt. Zuletzt war es eine Sechs in Latein gewesen die ihm und seiner regulären Versetzung den Rest gegeben hatten. Das Urteil seiner Mutter war hart ausgefallen. Er durfte nicht mit in die gemeinsamen Ferien, wurde stattdessen strafversetzt für sechs Wochen zu seinen Großeltern, respektive zu seinem strengen, nicht leiblichen, hyperdisziplinierten und strukturierten Großvater, dem Professor und Bakteriologen. Vor dem alle in der Familie Angst hatten, außer vielleicht seine Mutter. “Willkommen im Sanatorium zum logischen Großvater”, würde sein Kumpel Johann sagen. Na, toll, dieser Sommer war dann wohl ebenfalls gelaufen!

Die Tagebücher der Großmutter waren ihm durch Zufall in die Hände geraten, nicht ganz unabsichtlich hatte er dann allerdings zu lesen begonnen und konnte jetzt nicht mehr aufhören. Unachtsam wie er war, hatte er einen Brief auf dem Schreibtisch liegen lassen, der in einem der Tagebücher verborgen gewesen war. Natürlich fand ihn seine Oma Nana, und war so verletzt und ärgerlich, dass sie ihn ohrfeigte und erst einmal nicht mehr mit ihm sprach. Bis zu dem Tag als Herr Lohmann starb. Der Vater seines besten Freundes Johannes. Vom Stuhl gefallen. Beim Frühstück. Im Urlaub. Am Gardasee …

Drei Freunde und eine Schwester. Da passt kein Blatt dazwischen. Unsinn meets Leichtsinn. Ein Steinbruch. Ein Bagger. Ein verletzter Hydraulikschlauch. Ein ultraschlechtes Gewissen. Friedrich träumt – von Brasilien, von Beate, von Musik die in der Luft liegt, übt Sprünge vom Fünf- und Sieben-Ein-Halb-Meter-Brett, prellt sich die Seite und die Stirn, liebt es des Nachts und im Regen zu schwimmen. Verpatzt so manches. Erkennt, dass der Tod zum Leben gehört, Krankheiten des Geistes noch nicht einmal lustig aussehen und das ein einziger Tag, eine einzige Stunde genügen, um alles in Trümmer zu legen, derweil am Rande eines Nervenzusammenbruchs die Hilflosigkeit wartet.

Einem Tiger in die Augen sehen, ein Vorbild finden wo man es nicht erwartet hat, ein Abenteuer bestehen, mit dem man nicht gerechnet hat, herausfinden was man will. Das alles kann man hier, denn es ist ja ein großer Sommer …

An einen Sommer, der größer war als alle anderen erinnere ich mich für mich nicht, aber an die Unbeschwertheit, die nur die Sommer meiner Teenagerzeit hatten sehr wohl. Finger, die klebrig waren von heruntergetropftem Eis, ein Sonnenbrand, die Streifen auf meiner Haut die der Badeanzug hinterlassen hat. An meine Angst vor dem Sprung vom Drei-Meter-Brett denke ich und daran wie oft ich die Leiter wieder herunter gestiegen bin ohne zu springen. An meine karierten Karottenhosen und meinen Vokuhila-Haarschnitt und an ihn, meinen Großvater Wilhelm, den Imker, der mir nach meiner sechs in Biologie Nachhilfe gegeben hatte, damit ich endlich verstand was es mit dem Schwänzeltanz der Bienen auf sich hatte …

Arenz lässt mich lächeln. Dieser Erinnerungen wegen und weil er diese Unbeschwertheit perfekt einfängt und das fühlt sich gut an, sind unsere Tage, meine Tage, doch gerade alles andere als das. Unbeschwert. Wie geht das noch mal? Sich so richtig leicht fühlen. Den Sommer spüren. So richtig. Die Hitze, die vom Asphalt aufsteigt, ohne dabei an den Klimawandel zu denken, weil es schon wieder so lange nicht geregnet hat. Das lichte Blau des Himmels genießen, überhaupt bemerken, den Himmel nicht nach einem drohenden Gewitter absuchen. Am Rand eines Schwimmbeckens sitzen und die Beine baumeln lassen. Es scheint ewig her dieses Gefühl, um so schöner, wenn es eine Geschichte heraufbeschwören kann. Eine Zeit lang war ich wieder barfuß im Gras unterwegs leckte an meiner Eistüte und schaute den Wolken nach.

Ewald Arenz, geboren 26. November 1965 in Nürnberg, deutscher Bestseller-Autor und Lehrer, schrieb sich mit seinem Roman “Alte Sorten” auf die SPIEGEL Jahres-Bestenliste 2020 und auf die Shortlist zum Lieblingsbuch der Unabhängigen Verlage 2019. Seine “Alten Sorten” hatten es auch mir angetan, besonders der Ton hatte mir gefallen und auch seinerzeit hatte ich sie mir als Hörbuch ausgesucht. Kann sein neuer Roman halten was viele positive Stimmen versprechen und meine eigene hohe Erwartung erfüllen? Nicht selten ist ein gefeierter Roman für den nachfolgenden und den Autor ein Fluch. Die Messlatte liegt hoch und sie erneut zu überspringen, seine Fangemeinde nicht zu enttäuschen, muss ein unsagbarer Druck sein. Arenz hält ihn aus. Und ob. Und wie.

Er schafft es, so wie schon bei “Alte Sorten” mit einer Leichtigkeit zu erzählen, die ungemein unterhaltsam und trotzdem berührend ist. Bei mir erzeugt er ein Wellenbad der Gefühle, das so empfinde ich es, in seiner Figurenzeichnung begründet liegt. Seine Helden haben Ecken und Kanten, aber auch eine Verletzlichkeit und Glaubwürdigkeit, die sie wasch- und lebensecht macht. Seinen Friedrich gestaltet er als Ich-Erzähler so wunderbar nahbar, dass ich ihm neugierig und gerne durch seine Geschichte auf den Fersen geblieben bin.

Erwachsenwerden ist nichts für Feiglinge. Bittersüß kommen die hier erzählten Erlebnisse daher, kurzweilig und bestens habe ich mich unterhalten gefühlt. So viele Bilder haben sie mir herauf beschworen, wie ein Geist aus der Flasche stiegen sie auf. Schöne und Schmerzvolle. Bunte und verblasste. Freundschaft, Brüche, Zerwürfnisse und Versöhnung. Es ist das Wechselvolle und die Lebendigkeit des Textes die das macht, die auslöst was sie auslöst und diese Bilder werden bei jedem Leser oder Hörer andere sein. Das ist, was den Mehrwert einer Geschichte ausmacht, was den Unterschied macht zwischen gut und besonders.

Einen nicht geringen Anteil an dieser Gefühlsübertragung hat für mich die Hörbuch-Fassung, mit ihren 7 Stunden 34 Minuten, ungekürzt und ohne Filter, erlebt man als Vorleser …

Torben Kessler, Jahrgang 1975, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher. Seine Lesung von Arno Geigers “Unter der Drachenwand” hatte ich noch präsent als ich in diese Geschichte gestartet bin. Wie anders sie doch ist und wie großartig Kessler sich situativ jeweils genau darauf einzustellen vermag. Dies mit einer Zurückhaltung die gleichzeitig eine außerordentliche Empathie und Nähe zu den Figuren spiegelt. So muss ein gutes Hörbuch sein. Eine Symbiose aus Text und Vortrag.

Kessler gibt Friedrich zusätzlich Kontur, hält ihn mit seiner Stimme, haucht im Leben ein und mir ist so, als ob ich ihn kenne, gut kenne. Wie er da vor mir steht, manchmal naiv, dann wieder ernst, mit seinem Hunger, seiner Neugier auf das Leben, auf das was vor ihm liegt. Das Team Kessler/ Arenz lässt ihn seine Angst überwinden. Die Angst vor dem Sprung ins kalte Wasser, die Angst vor dem Sprung vom Kind zum Mann. Kessler hält ihm dabei nicht die Hand, er feuert ihn er an, feiert mit ihm, ist verliebt mit ihm in die grünen Augen von Beate. In den Sprung von ganz oben, in die Freiheit des Falls …

“Freundschaft beweist sich nicht in den guten Zeiten.”

Textzitat Ewald Arenz Der grosse Sommer

Mein Dank geht an Der Audio Verlag für dieses Rezensionsexemplar:

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