Ameisen unterm Brennglas (Jens Steiner)

Wir müssen uns entscheiden. Jeden Tag. Wollen wir Teil der Lösung sein, oder Teil des Problems? Lassen wir zu, dass unsere Ängste und Bedenken die Überhand gewinnen, oder behalten wir das Heft des Handelns in der Hand? Wie sortieren wir aus der täglichen Informationsflut das heraus, was wichtig und richtig ist. Das, was es uns ermöglicht, uns eine Meinung zu bilden, die gefestigt und möglichst objektiv ist. Wie können wir das Manipulative vom Ehrlichen noch unterscheiden? Was lässt uns aggressionsfrei und besonnen bleiben …?

Ameisen unterm Brennglas von Jens Steiner

Toni wohnt im 18 Stock, hoch oben über Bern, könnte einen Ausblick genießen wie ihn nur wenige haben, buchstäblich könnte er über den Dingen stehen. Tut es aber nicht. Kann es nicht. Weil aufregen ist sein Spezialgebiet. Gerade erzürnt er sich, wie diese grünen Raupen sich zum wiederholten Mal über sein Basilikum hermachen, und er kann sie nicht killen, kann sich nur darüber aufregen. Wie jämmerlich …

Aufregen ist sein Spezialgebiet, was für ein Satz und wie gut ich ihn verstehe. An manchen Tagen ist es schwer gelassen zu bleiben. Denkt mal zurück an die Pandemie und die Lockdowns. Geschäfte auf, Geschäfte zu, Unterricht ja, Unterricht nein, Friseurbesuch erlaubt, Friseurbesuch verboten. Ein permanentes Auf und Ab, ein Ab und Auf, durchgreifende Änderungen noch immer nicht in Sicht. Impfung heißt die Hoffnung und wir warten. Darauf dass wir an die Reihe kommen, darauf dass viele mitmachen wollen. Darauf, das es endlich anders, wieder besser wird.

Heute wird etwas geschehen. Er spürt es. Sein Leben lang hat er sich gegen das Spüren gewehrt, hat immerder Kraft des Argumentes das Tor offen gehalten. Aber jetzt ist da dieses Gespür und er weiß, es zuzulassen ist ein Tribut an den Abschied vom Leben“.

Textzitat Jens Steiner Ameisen unterm Brennglas

Sehstörungen und Stürze. Während auf YouTube laut spekuliert wird über eine geheime Armee, sehen andere sich bereits von Terroristen überrannt. 

Kopfstand und Caruso, pochendes Blut hinter der Stirn, schwindelerregende Klarheit. Maßlos bestürzt über die Welt. Mir wird klar, dass diese Figuren wie Menschen aus Fleisch und Blut agieren, dass Sie mit uns mehr gemein haben als mir lieb ist. Gründe für ein gesundes Misstrauen gibt es reichlich. Bei ihnen, bei uns …

Ausblenden was man nicht sehen will,  nicht hören, nicht verstehen will. Wie gut diese Szenarien, diese Reaktionsmuster auch auf die Pandemie passen in der wir stecken, auf unser Verhalten in ihr, unseren Umgang mit ihr. Ich bin schon auch erschrocken, wie berechenbar wir Menschlein offenbar sind, wie ausrechenbar, wie manipulierbar und wie leicht zu durchschauen. Oder aber, Steiner hat eine ganz besondere Gabe, und kann sogar die Räume hinter unseren Gedanken ausleuchten. Sein Philosophiestudium macht sich vielleicht an dieser Stelle und in seinem Schreiben bemerkbar?

Jens Steiner, geboren 1975 in Zürich, studierte Germanistik, Philosophie und vergleichende Literaturwissenschaft, arbeitete als Lehrer und Lektor, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete. 2011 war er nominiert auf der Longlist des Deutschen Buchpreises mit “Hasenleben“, eine zweite Longlist-Nominierung erschrieb er sich 2013 mit seinem Roman “Carambole“. Für letzteren wurde er 2013 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Seine “Ameisen” hat er geschrieben da ahnten wir von dieser Pandemie noch nichts, von dem was sie in unseren Gesellschaften freisetzen würde. Er zeichnet ein Bild von unterschwelliger Gewaltbereitschaft, von einem Aggressionspotential, welches unter der Oberfläche, unter der Haut seiner Figuren schlummert auf eine Art, dass mir hören und sehen vergeht. Dies mit einer Sammlung von kurzen, episodenhafte Geschichten und Protagonisten die es in sich haben. Dieses Gen, das er da reklamiert, das für das Zerstörerische steht. Dabei formuliert er schwindelerregend gut wenn er u.a. wie beiläufig vom Krippenfiguren schnitzen erzählt, davon das es nichts hilft Schmerzen klein zu schweigen.

In der Kürze liegt die Würze, sagt der Volksmund. Inhaltlich kurzgefasst schreibt Jens Steiner, das hat durchaus etwas, es öffnen sich Räume, Denkräume für seine Leser. Seine Protagonisten verbindet er durch die Nachrichten, die die einen für sich abwählen und an denen die anderen wie Kletten kleben. Es geht um Terroristen, um eine Bedrohung die von außen kommt. Nachrichten die Menschen in ihrer Meinungsbildung vereinen, und die gleichzeitig spalten.

Ein Brand. Ein Anschlag? Ein gestohlenes Auto, ein Überfall, ein Versteck im Wald. Ein Sturmgewehr und eine Batman-Maske.
Reizwörter, Flaggen, es läuft aus dem Ruder und der Zusammenhang der Ereignisse zeichnet sich ab.

Es regnet Protagonisten, es hagelt Namen, alles hängt mit allem zusammen. Bei dieser Geschichte, dieser Aneinanderreihung von Geschichten, muss man alle seine Antennen auf Empfang halten, um den Anschluss nicht zu verlieren, um die Übergänge zwischen den Episoden nicht zu verpassen.

Spießigkeit und Ausländerfeindlichkeit, ein achtlos weg geschnippter Zigarettenstummel wird zum Stein des Anstoßes und Anstoß nimmt man an vielem. Ist DAS unser Problem? Fehlt es uns an der notwendigen Toleranz, an gegenseitiger Rücksichtnahme? Gebe sich ein jeder seine eigene Antwort, das hat Steiner gut hingekriegt, ich gebe mir meine.

Kidnapping, ein politisch motivierter Anschlag, findet die Presse. Zusammenhang wird dort vermutet wo keiner ist. Die Polizei tappt im Dunkeln, die Bevölkerung spekuliert. Auf einer Autobahn werden bündelweise 100 € Scheine aus einem fahrenden Auto geworfen während ein Dreckklumpen verrät, es muss ein Fremder in der Wohnung gewesen sein. Ein privater Schutzraum wird bedroht, eine Geisel genommen.

Aus Angst wird Wut, besser man nimmt sie ernst. Denn in uns allen schläft sie und wehe wenn einer kommt und weckt sie auf, meint Steiner.

Was lässt einen Menschen gewalttätig werden? Wo liegt die Schwelle, die Reizschwelle, die eine Eskalation möglich werden lässt? Ich suche nach den Auslösern in dieser Geschichte, finde sie nicht, stehen sie zwischen den Zeilen, habe ich sie überhört? Oder verstehen sie sich immer, auch außerhalb von Romanen, so gut zu verbergen? Das ist ein beängstigender Gedanke und ich will ihm gar nicht weiter folgen.

Rosenblütentee und alte Chansons. Kinder verschwinden hinter ihren Smartphones, unerreichbar für die Eltern, lernen auf YouTube neue Weltsichten und obskure Theorien kennen. Glauben daran. Verlustangst auf der Schwelle zu einer neuen Zeit. Ein Brief geht auf die Reise, erreicht seinen Empfänger, der sich als Antwort selbst mitbringt …

Ich fühle mich, als führe mich Steiner Schritt für Schritt in die Eskalation. Es schwelt unter der Oberfläche seiner Sätze. Unaufhörlich. Er fordert mich heraus, will, das ich das Knäuel aus losen Fäden endlich entwirre.

Wenige Tage nur begleite ich ihn und seine Figuren im Roman und er kleidet sie mit poetischer Sprache ein. Sprachlich habe ich seine Geschichte sehr gern gemocht, inhaltlich und ihres fragmentarischen Aufbaus wegen hat sie es mir nicht leicht gemacht. Meinem Gefühl nach haben die vielen Erzählteile der Handlung eher ihre Dynamik genommen.

So fühlte ich mich zwischen den Kapitel zeitweise als hätte ich etwas wesentliches verpasst. Erzählfragmente, die wie Blitzlichter erscheinen, und die Lupe, die Jens Steiner mal über diese, mal über jene seine Figuren hält, um sie mich aus der Nähe betrachten zu lassen, wie eine einzelne Ameise in einem wimmelnden Haufen, verwirrten mich. 

Die Grundidee des Romans, der seine Protagonisten nach Halt und Stabilität suchen lässt, während ihnen ihre Leben immer mehr entgleiten und sie mit Resignation oder Aggression reagieren lassen, fand ich faszinierend. Das verbindende Element, das Steiner einsetzt, eine Reihe von Verbrechen die Medien und Öffentlichkeit unbedingt in einem Zusammenhang und zwar in einem terroristischen sehen wollen, ist für mich aber kein schlüssiges Bindeglied zwischen seinen Figuren und ihren Motivationen. 

Wer nicht lesen will muss hören. Diesem Motto folge ich ja schon eine Zeit lang, fehlt es mir doch häufig an Lesezeit, aber meine Ohren sind meist noch frei. So habe ich durch Zufall diese Lesung des SRF entdeckt. Das Schweizer Radio hat ihn für Steiners Text gewonnen, die Lesung ist in der Audiothek des Senders verfügbar:

Andri Schenardi, geboren 29. November 1980 in Altdorf, Kanton Uri, liest Steiners Roman mit Herzblut, mit Schmerz und Wehmut der Stimme. Er singt und summt, lacht und scherzt, immer der Situation angemessen. Ich behalte ihn mal im Auge, oder im Ohr, wie auch immer …

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