In den Docklands von Cardiff, der Tiger Bay, wurde am 6. März 1952 die 42-jährige Ladenbesitzerin Lily Volpert ermordet. Festgenommen wegen Mordes an ihr und zum Tode verurteilt, starb der Matrose Mahmood Hussein Mattan am 3. September des gleichen Jahres durch den Strang. Anschließend wurde er verscharrt im Gefängnisgarten, wie viele vor ihm.
45 Jahre später hob das zuständige Berufungsgericht das Urteil gegen Mattan wieder auf, seine Familie erhielt eine Entschädigung in Höhe von 725.000 Pfund, die erste überhaupt, die in England an die Angehörigen eines zu Unrecht Gehängten ausgezahlt worden war, und sie durfte jetzt seinen Leichnam exhumieren um ihn in geweihter Erde bestatten. Seither mahnt sein Grabstein mit den Worten: “DURCH UNGERECHTIGKEIT GETÖTET.”
Soweit die grausamen Fakten mit denen sich der aktuelle Roman der britisch-somalischen Autorin Nadifa Mohamed beschäftigt, sie greift diesen Justizirrtum auf um uns davon zu erzählen und nicht nur davon …
Der Geist von Tiger Bay von Nadifa Mohamed
Im Bauch dieser Schiffe herrschte die Dunkelheit und die Heizer, die Trimmer in den Kohlenbunkern, waren ihre Herren. Bis zur Erschöpfung schaufelten sie, feuerten die Glut an, die das auf den Atlantikwellen stampfende Schiff seinem Ziel Stück für Stück näher brachte. Ein glühendes, zischendes Stück Kohle traf sein Auge, brachte ihn fast um das Licht. Ihn, der die sieben Weltmeere bereist hatte, den sie bald schon für einen Mörder halten sollten, weil er der Teufel geworden war, den sie von Anfang an in ihm sehen hatten …
Cardiff, 1952, Docklands.
Im Kino laufen jetzt QuoVadis und African Queen.
Er ist einer von vielen hier. Gestrandet. Sie nennen ihn “den Geist von Tiger Bay”, weil er kommt und geht wie ein Schatten, mit zum Teil langen Fingern. Sein Name Mahmood Mattan, Somalier, Seemann, Glücksspieler, Dieb, gesegnet mit einer Mutter die Sätze schmiedet die wie Pfeile sind, die ihr Ziel selbst noch in Briefen treffen, mögen auch ein Ozean und viele Seemeilen zwischen ihr und ihrem Sohn liegen. Vater von vier Kindern, Ehemann in einer Mischehe, von seiner Frau ad acta gelegt. Bis heute. Bis zu dem Tag, als sie ihm Handschellen anlegen. Erneut. Zunächst denkt er noch es gehe um den Diebstahl eines Mantels. Mit ihm hatte er seine Frau beschenken, besänftigen wollen. Wie dumm er doch war. Als sie ihm Mord vorwerfen und ihn konfrontieren spürt er schnell, aus dieser Nummer wollen sie ihn gar nicht mehr herauslassen …
“Im einen Augenblick versteht er alles, dann wechseln sie die Frequenz wie ein knisterndes Radio und schwadronieren in ihrer Universitätssprache daher , woraufhin er sich nur noch an einzelnen Wörtern festhalten kann.”
Textzitat Nadifa Mohamed Der Geist von Tiger Bay
Mehr als dreißig belastende Zeugen lässt die Autorin aufmarschieren, bis der Beklagte am Ende selbst glaubt er sei es gewesen. An dieser Stelle weicht die Fiktion etwas vom tatsächlichen Mordfall ab, seinerzeit war es eine einzige Zeugin, die einen Unschuldigen zum Mörder abgestempelt und an den Galgen gebracht hat.
“Diese ersten Momente, ehe sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfestigen, wenn sich die Zeit zeitlos anfühlt und kreischende Möwen sie sicher aus Träumen lautloser Wehklagen geleitet haben, sind Genuss.”
Textzitat Nadifa Mohamed Der Geist von Tiger Bay
Nach der ersten Zigarette im Bett übernimmt der Tag gnadenlos das Regiment und Diana, die Schwester der Ermordeten, eine toughe Person, die als Kriegswitwe mit ihrer Tochter bei ihrer Schwester untergekommen war, nach ihrem eigenen beherzten Einsatz im Kampf, steht jetzt vor einem den sie nicht kämpfen will. Dem Kampf mit der Trauer, der mit bodenloser Wut und einem tauben Herzen beginnt, der blind macht für die Wahrheit. Die Autorin eröffnet einen Seitenstrang im Plot und mein Blickwinkel ändert sich.
Nadifa Mohamed, wurde 1981 in Somalia geboren, kam als Kind mit ihrer Familie nach London studierte in Oxford Geschichte und Politik, so kann man es dem Klappentext entnehmen. Ihr aktueller Roman “Der Geist von Tiger Bay“, der im englischen Original “The Fortune Men” heißt, hat es auf die Shortlist unter die besten sechs Titel für den Booker Prize 2021 geschafft.
Übersetzt hat für sie Susann Urban, die auch bereits ihren Vorgänger Roman “Der Garten der verlorenen Seelen” (2014) ins Deutsche übertragen hat.
In einem Interview gibt die Autorin an, 2004 erstmals von dem Justizirrtum um den somalischen Seemann Mahmood Hussein Mattan gelesen zu haben, elf Jahre lang habe sie dann immer wieder geschaut was es Neues zu diesem Fall an Informationen gab um dann 2015 mit dem Schreiben ihres Romans zu beginnen. Dabei habe sie beschlossen, die Grenze zwischen Fakten und Fiktion verschwimmen zu lassen, sie führte dafür zahlreiche Interviews in Cardiff und Hargeisa. Als Quelle nutzte sie auch ihren Vater, er entstammt der gleichen Generation wie Mattan, hatte ihn sogar gekannt und er empfand große Sympathie für diese zerbrechliche Gemeinschaft somalischer Matrosen, in der es an Liebe und Mitgefühl gemangelt habe.
Alle in dieser Geschichte verwendeten Namen sind real, nur den Namen des Mordopfers Lily Volpert hat die Autorin aus Respekt vor den Angehörigen geändert. Bei ihr heißt sie Violet Volacki.
Ihre Novelle eines historischen True Crime Falles hat es in sich. Der Alltagsrassismus der im Großbritannien der Nachkriegsjahre herrschte zieht sich wie ein roter Faden durch alle Seiten, was mich nicht nur einmal aufgebracht den Kopf hat schütteln lassen. Dabei hat der Roman es mir nicht ganz leicht gemacht. Die ersten einhundert Seiten habe ich mir schwer getan hineinzukommen in die Geschichte. Zu ausführlich waren mir die sich immer wieder verzweigenden Gedanken, Umschreibungen von Figuren und Millieu. Auch an die Sprache von Nadifa Mohamed, respektive an die Übersetzung von Urban musste ich mich erst gewöhnen. Für mich holperten die Sätze zu Beginn etwas zu sehr, waren mir stellenweise zu bandwurmartig.
Im weiteren Verlauf dann habe ich mich in die Handlung fallen lassen, war einfach nur fassungslos angesichts dessen wie einfach man es sich gemacht hatte jemandem das Leben zu versagen und es ihm am Ende gar zu nehmen um dann noch seinen Angehörigen seinen Leichnam zu verweigern. Das ist an Grausamkeit kaum zu überbieten. Über Sinn und Unsinn der Todesstrafe wird heute noch diskutiert, weil die Justiz sich eben auch irren kann, Menschen eben nicht unfehlbar sind, besonders nicht in ihrer Fähigkeit über andere zu urteilen. Seinerzeit störte das offenbar niemanden, fein säuberlich hatte man die somalischen Einwanderer im Brittanien dieser Tage in die ihnen zugewiesenen Schubladen einsortiert und diese fest verschlossen.
Mit zunehmender Zahl an gelesen Seiten kippt die Stimmung im Roman, sie wird zusehends bedrückender und erzählende Ausflüge in Mattans Vergangenheit, in seine Kindheit, die alles andere als ein Rosengarten gewesen war, wechseln sich als Zeitsprünge mit dem Blick auf die Gegenwart, die Anhörungen und den sich anschließenden Prozess ab. Im krassen Kontrast dazu stehen die Rückblenden in das Leben des wohlhabenden Opfers und seiner Schwestern.
Der Erzählton verändert sich ebenfalls, nachdenkliche, wehmütige, beinahe philosophische Sätze nehmen zu. Jetzt gefällt er mir sehr. Sein ruhiger Fluss, die dramatische Zuspitzung, die nicht nur inhaltlich passiert, sondern auch in den Satzbildern. Der Blick der Autorin wandert immer wieder zwischen den Angehörigen des Opfers, dem Angeklagten und den Seinen hin und her. Ohne Überschwang. Ohne Pathos. Sie beobachtet genau, bewertet nie, bezieht keine Stellung. Das überlässt sie ganz uns, ihren Leser:innen.
Schubladendenken kann tödlich sein. Dieser Fall steht exemplarisch für Ignoranz und Intoleranz, er zeigt die Schwäche eines Justiz-Systems auf, zeigt wie beeinflussbar Menschen sind, wie man sich verrennen kann, was gezielte Manipulation bewirkt.
Wem die Gnade der Menschen versagt bleibt, der kann nur noch auf die Weisheit Gottes vertrauen.
Hier ziehen Geschworene sich zurück um 14:36 Uhr, ein Schuldspruch ergeht um 16:10 Uhr. Nur 94 Minuten trennen ein Leben vom Tod und in der Folge wird für alle, die wie der Angeklagte die falsche Hautfarbe in diesem Teil der Welt haben alles schlimmer. Berufung – abgelehnt …
Als sei die Autorin förmlich in ihre Hauptfigur hinein gekrochen, so fühlte es sich für mich an, das letzte Drittel dieses Romans zu lesen und so wie sie, Nadifa Mohamed, ihn sieht, nicht nur in seinen letzten Tagen und Stunden, wie sie das Andenken von Mahmood Mattan ehrt, das hat mich tief berührt. Mich sprachlos gemacht. Ich danke dafür! Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wie oft habe ich das schon gedacht und geschrieben und auch hier stimmt es. Leider.
“Mahmood schließt die Augen und lässt den Sonnenschein über sein Gesicht fließen wie heiliges Öl.”
Textzitat Nadifa Mohamed Der Geist von Tiger Bay
Mein Dank geht an den C.H. Beck Verlag für dieses Besprechungsexemplar.
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