Der gefrorene Himmel (Richard Wagamese)

Was mit vielen Volksgruppen in der Geschichte, den Ureinwohnern besiegter Landstriche gesehen ist, deren Wurzeln man gekappt hat, wissen wir und es birgt eine Grausamkeit in sich, die sich nur schwer in Worte fassen lässt. Meist sind es indigene Autoren, die wenn sie schreiben, eine ganz besondere Betroffenheit auslösen. Auch weil sie oft eine Sprache verwenden, die eine ungeheure Eindringlichkeit hat. Tommy Orange fällt mir da spontan ein, aber auch Colson Whitehead. Einer den man unbedingt dieser Fraktion zurechnen sollte ist dieser Autor, ein grandioser Erzähler vor dem Herrn:

“Man sagt, unsere Wangenknochen sind aus jenen Granitkämmen gemeißelt, die sich über unsere Heimat erheben. Und das tiefe Braun unsere Augen ist aus der fruchtbaren Erde gesickert, die unsere Seen und Sümpfe umgibt. Die Alten sagen, das unser langes, glattes Haar vom wogenden Gras kommt, das an den Ufern unserer Buchten wächst … “

Textzitat Richard Wagamese Der gefrorene Himmel

Der gefrorene Himmel von Richard Wagamese

Saul gehört zum Stamm der nördlichen Ojibwe, der Anishinabek, sie nennen ihn Indian Horse, seine Familie siedelte an den Ufern des Winnipeg River, kurz vor Manitoba und dies ist seine Geschichte.

Eine Geschichte von Entwurzelung, von Sehnsucht und von Flucht. Einer Flucht in den Alkohol. Eine Geschichte von Verlust, dem Verlust von Identität, von heiligen Orten, von Zugehörigkeit.

Eine Geschichte die Saul uns erzählen muss, um sich selbst wieder zu finden. Sich und vielleicht auch seine Gabe. Die eines Sehers. Einst war er jemand, der die materiellen Grenzen dieser Welt verlassen konnte um dorthin zu gehen, wo Zeit und Raum einem anderen Rhythmus folgen. Jetzt ist er Mitte dreißig, rein räumlich gesehen in einer Entzugsklinik und noch immer auf der Suche …

Unsere Rede wirbelt und fällt wie die Flüsse, die uns als Straßen dienen.

Textzitat Richard Wagamese Der gefrorene Himmel

1957. Er war tot. Am Morgen danach. Nach dem Reiswaschen. Blut hatte er gehustet, nach Luft gerungen. SIE hatten ihn krank gemacht. Die Zhaunagush. Die Weißen. Sie waren mit Gewehren an ihren Fluss gekommen. Saul war vier als sie seinen Bruder Benjamin stahlen und mitnahmen. Zur Schule sollte er gehen. Lernen nicht mehr wild zu sein. Nicht mehr frei. Als er von dort fortlief und zu ihnen, seiner Familie zurückfand, hatten sie ihm die Hustenkrankheit mitgegeben. SIE hatten ihn umgebracht und er Saul hatte Angst vor ihnen. Weil nicht einmal seine Eltern, seine Großmutter, die so weise war, sich gegen sie wehren konnten und jetzt war auch er bei ihnen gelandet …

Keine Schule, eher ein Arbeitslager, ein Umerziehungslager, die Hölle war St. Jerome’s. Nur Englisch war hier erlaubt, sprachen sie indianisch, wusch man ihnen den Mund mit Seifenlauge aus, auch wenn sie sich an ihr verschluckten und daran erstickten ließen sie nicht von ihnen ab. Das Gräberfeld der Schule füllte sich mit Kindern die den Freitod wählten. Die sich ertränkten, erhängten, nach Tagen die sie eingesperrt im dunklen, eiskalten Keller hatten aushalten müssen. Gleich ob Sie vier, sechs, acht oder oder dreizehn Jahre alt waren. Erbarmungslosigkeit im Namen des Herrn. Im Namen eines katholischen Gottes. Es gab nie eine Beerdigung wenn ein Kind starb. Es verschwand nur. Alle wurden sie missbraucht. Mädchen wie Jungen. Keiner verschont.

Nur auf dem Eis war er ein Krieger. Er tat alles für das Eis und um auf ihm spielen zu dürfen. Hockey. Pater Leboutillier hatte das Spiel in die Schule gebracht und ihm vielleicht damit das Leben gerettet. Schnell wie der Wind, ausdauernd und die Spielzüge seiner Gegner vorausahnend, wurde Saul einer der Besten. Das Spiel liebte ihn, sagten sie und er liebte in diesen Momenten das Spiel. Den Jubel, die Anerkennung. Bis das Spiel ihn nicht mehr liebte …

Richard Wagamese, geboren 1955 im Nordwesten von Ontario, veröffentlichte 15 Bücher, wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Für diesen seinen Roman, indem er die Geschichte seiner Familie mit einer Chronik der Entwurzelung und Diskriminierung der indigenen Stämme in Kanada verbindet, erhielt er 2013 einen der wichtigsten Preise für indigene kanadische Literatur. Wagamese verstarb 2017. Im gleichen Jahr feierte die Verfilmung von “Der gefrorene Himmel” unter der Regie von Clint Eastwood Premiere. Wurde ein Publikumserfolg.

Für Wagamese übersetzt Ingo Herzke und ich schwelge in beider Erzählweise, von der ersten Seite bis zur letzten, weil sie mich die Weite sehen lassen, und das Eis spüren. Spüren lassen, was es bedeutet frei aber auch unfrei zu sein, mit jedem einzelnen Wort.

Wir meinen zu wissen geschehen ist und wissen doch nichts. Wagameses Erzählen ist auf eine Weise ergreifend für mich, die mich begreifen lässt. Manchmal fransen Romanfiguren an ihren Rändern etwas aus, werden undeutlich, hier hingegen sind sie ausgeschnitten wie mit einem Skalpell. Klar und deutlich habe ich sie vor Augen. Sie und die Sätze, in die sie eingehüllt sind, berühren mich körperlich.

“KEEWATIN. Das ist der Name des Nordwindes. Die Alten gaben ihm einen Namen, weil sie ihn für lebendig hielten, ein Lebewesen Lebewesen, wie alle Dinge. Keewatin steigt über den Rand der kahlen Lande und packt die Welt mit grimmigen Fingern, geboren im kalten Fuß des nördlichen Pols.”

Textzitat Richard Wagmese Der gefrorene Himmel

Ein erbarmungsloser Winter in der Wildnis. Eine alte Frau und ein Kind. Allein. Wölfe auf der Jagd. Nächte ohne Sterne. Dafür fällt Schnee, wie Sternenstaub. Sie stirbt um ihn zu retten und dann schluckt eine Schule alles Licht aus seinem Leben. Priester und Schwestern wollten alles indianische aus ihnen entfernen, damit der Geist des Herrn an ihnen bezeugt werden könne. Dafür scherten sie ihnen die langen Haare, hinterließen nur kurze Stoppeln, sie schrubbten ihnen beinahe die Haut vom Leib, in Wannen mit siedend heißem Wasser. Schlugen sie mit einem Lederriemen bis in die Ohnmacht, wenn sie Ihrer Meinung nach Ungehorsam waren.

Davon erzählt mir Saul und ich denke wieder: Was für eine Erzählstimme! Sie ist freundlich, warmherzig und gefühlvoll. Zitate die das belegen, hätte ich unzählige einfügen können. Sie setzt einen Kontrapunkt zu dem was geschieht, umschmeichelt mich, bevor die Geschehnisse, die sie umgrenzt mich an den Abgrund stellen. Mit der Faust in der Tasche stehe ich oft da, und dann verpasst Sie mir einen Tritt. Ich schlage hart auf, auf dem Boden der Tatsachen. So wie Saul, dessen Name jetzt nicht mehr Indian Horse sein darf …

Dieser Roman ist unfassbar. Weil, ich wiederhole mich, es muss sein, er ist einfach unfassbar schön geschrieben und so wunderbar übersetzt. Unfassbar ist auch was hier geschehen ist. Wie immer, wenn es um ethnische Säuberung, um Umerziehung geht. Es tot zu schweigen, weil es dann so ist, als sei nichts geschehen, scheint ein probates Mittel zu sein, wie gut, das Richard Wagamese seine Stimme erhoben hat und genau auf diese Art und Weise. Denn er schreit nicht, nie. Das braucht es nicht, er ist ganz leise und genau das macht mir eine Heidengänsehaut.

Wer also schöne Worte und Sätze mag und Eishockey, die Szenen auf dem Eis sind wirklich mitreißend beschrieben, wer eintauchen will in eine Welt und in eine Zeit vor unserer Zeit, wer einen Helden sucht, den er umarmen kann, der lese dieses Buch.

Wer sich vor Augen führen will, wie lange die nordamerikanischen und kanadischen Indianer schon gegen Diskriminierung kämpfen, was es auszuhalten galt, dass sich Aktionen besonders auch gegen die Kinder, die schwächsten gerichtet haben, ganz gezielt und was ein solches Verhalten anrichtet, der auch.

Ich mochte den Roman sehr und wünsche ihm noch viele Fans, die an seiner Bande stehen. Frierend vielleicht, mit dicken Handschuhen und warmen Socken. Weil auf dem Eis, kann man verschwinden, in einer anderen, in einer eigenen Welt. Hier darf man sein. Indianer sein. Aber Vorsicht, nur wenn man gegen den richtigen Gegner spielt. Sonst hagelt es Fouls, denn die Weißen, besonders wenn man in den Städten gegen sie gewinnt, sehen keine Mitspieler auf dem Feld, sie sehen nur dunkle Gesichter und die, denen das Spiel nicht gehört …

… und ja, die Ojibwes sind die besten Geschichtenerzähler. Saul und Richard Wagamese haben auch mich ankommen lassen, am Ort der Enden und Anfänge.

Mein Dank geht an den Blessing Verlag für dieses Rezensionsexemplar.

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