Das grüne Auge (Nathacha Appanah)

Das 101. Department Frankreichs liegt zwischen der Nordspitze von Madagaskar und dem Norden Mosambiks im Indischen Ozean. Es besteht aus einer Hauptinsel und mehreren kleinen Inseln, die geographisch zu den Komoren gehören. Mayotte heißt diese Inselwelt, deren Bewohner sich 1974 bewusst gegen ihre politische Unabhängigkeit entschieden haben. Mayotte, oder französisch Mahoré mit ihrer Hauptstadt Mamoudzou.

Ein Tauchparadies mit Schattenscheiten. 2017 schätzte man den Anteil an illegalen Einwandern unter den Mahorern auf über 50 %, unter ihnen viele unbegleitete Jugendliche und hochschwangere Frauen, die darauf hoffen dass ihre Kinder nach ihrer oft waghalsigen Flucht mittels wackliger Boote (kwassa-kwassas), sodann in Frankreich geboren und danach nicht wieder abgeschoben werden.

Wir wünschen manchmal jemanden dahin wo der Pfeffer wächst, das wäre dann Madagaskar und wer weiß, vielleicht ist der Schauplatz dieser Geschichte, die vor den Küsten dieser Gewürzinsel spielt, ja die Insel der Verwünschten, daran habe ich beim Lesen oft denken müssen …

Das grüne Auge von Nathacha Appanah

Es sind immer die Tage, die beginnen wie jeder andere auch, die alles verändern, sagt man. In diesem Fall ist es ein Abend im Mai, der 3. um genau zu sein. An diesem Abend sammelte die Grenzpolizei auf Mayotte wieder ein Boot ein. Unter den Insassen eine völlig erschöpfte, noch minderjährige Frau mit einem Säugling im Arm, der bandagiert ist wie eine Mumie. Weil er besessen sei, so die junge Frau die ihn auf ausgestreckten Armen hält und die selbst noch wie ein Kind aussieht. Ein Junge, der als er die Augen aufschlägt mit einem grünen und einem schwarzen Auge in die von Krankenschwester Marie blickt. Sie wendet den Blick ab und sich, um dem Kleinen ein Fläschen zu organisieren und als sie zurückkehrt ist die junge Frau, die ihn bis hierher gebracht hat aus ihrem Bett verschwunden …

Jetzt würde es Krieg geben. Krieg in Gaza. Wie sie das Armenviertel auf Mayotte hier nennen. Ihr Chef war tot, der der hier das Sagen hatte, Bruce. Sein Mörder hatte sich gestellt, was es nicht besser machte. In einer winzigen Zelle hatte in die Polizei vorerst in Sicherheit gebracht, ein Kind noch, gerade siebzehn, verwahrlost, verwirrt und wie neben sich stehend … 

Nathacha Appanah wurde 1973 in Mahébourg auf Mauritius geboren). Die Journalistin und Autorin mit indischen Wurzeln lebt seit 1998 in Frankreich, drei Jahre lebte sie selbst auf Mayotte.

Von dieser Autorin möchte ich mehr lesen, das steht für mich schon nach den ersten Seiten fest! Sie hat mir eine Ecke der Welt gezeigt von der ich nicht einmal etwas ahnte. Eine vergessene Insel. Eine Insel angefüllt mit hoffenden, gestrandeten und verlorenen Seelen. Ein Frankreich am Rande der Welt. Mit ihrem Roman “Das grüne Auge” war sie nominiert für den Prix Goncourt, mit dem Prix France Télévisons und den Prix Femina des lycéens wurde sie ausgezeichnet und das ist sie auch diese Geschichte. Ausgezeichnet!

Wir müssen ihr glauben ihrer Romanfigur Marie. Von dort aus, wo sie zu uns spricht nützen Lügen nichts, sagt Appanah und ich glaube ihr. Jedes einzelne Wort brennt sich mir ein. Ich glaube ihrer Marie bis zu dem Moment als ihr Kopf hart auf dem Boden aufschlägt und noch darüber hinaus. Nachdem diese eine Arterie in ihr geplatzt war, sich ihr Kopfschmerz entlud und sie Moïse, ihren Sohn, der nicht ihr leiblicher war, alleine ließ. Lassen musste. Den Jungen mit den zwei unterschiedlich farbigen Augen. Der an Heterochromie, einer harmlosen genetischen Anomalie leidet und der nicht der Sohn eines Dschinns ist, wie alle erschrocken glauben. Er ist vierzehn als Marie stirbt und ein Jahr später wird er ein Mörder sein. Weil diese Insel einen aus ihm gemacht hat. Das, und sie hat diese Furcht, diese verzweifelte Sehnsucht in ihn hineingelegt. Mit er fortan ohne seine Adoptivmutter umgehen muss.

Appanah wechselt immer wieder die Erzählperspektive, von der Mutter zum Sohn, vom Täter zum Opfer, von den Lebenden zu den Toten, ohne ihre Kraft zu verlieren, im Gegenteil. Jedes Kapital ist mit dem Namen des- oder derjenigen überschrieben, der/die zu uns spricht. So behält man gut den Überblick. Und was das für Stimmen sind! Was für eine Stimme diese Autorin erhebt und welch grandiose Übersetzung aus dem französischen Yla M. von Dach da für uns gezaubert hat. Eine, die mich betroffen macht, die bisweilen ohne Kommata bei den Aufzählungen auskommt und die ich sehr genossen habe, in vollen Zügen, mit all ihren Passagen die bis auf die Knochen schmerzen. Mit diesen Sätzen die von schimmernder, irrisierender Schönheit sind, die eine Wucht entfalten, einen Nachhall der mich schwindeln lässt. Dann, wenn sie und Appanah mir vom Vermissen erzählen, vom Hunger, von den Ratten und von dieser Angst.

Was ist ein Menschenleben wert? Wohin gehört man wenn man einer Fremden überlassen wird? Einer Frau, die einem gerne eine Mutter wäre, der es egal ist, dass ihre Hautfarbe eine andere ist als die ihres angenommenen Kindes. Was allen anderen aber alles andere als egal ist. Was lässt einen Menschen töten?

Ein Schicksalsschlag. Schon wieder. Sätze wie mit Blut geschrieben.

Die falsche Gesellschaft. Die schiefe Bahn. Eine erste Bestrafung. Eine Narbe die nicht an der Oberfläche bleibt. Die nicht verheilt. Die zeichnet. Einen kennzeichnet als das was man ist. Als Einen von ihnen. Einen Illegalen. Das glauben sie ist er.

Blut und Dreck, Schwarzmarkt und Schwarzdiebe. Ein Joint macht die Runde, der alles vergessen lässt. Sie nennen dieses Gemisch “die Chemische”. Für diesen einen Moment nimmt er ihnen die Furcht, die in ihren Bäuchen rumort. Aber er erzeugt auch Bilder die man nicht sehen will.

Flucht nach innen. Das Sprechen verweigern heißt andere nicht mehr in den eigenen Kopf schauen lassen. Als Stéphane im Viertel ankommt um einen “Jugendtreff” aufzubauen und Moïse so etwas wie Ruhe in seiner Gegenwart und in der der Bücher findet die er mitbringt, braut sich ein Gewitter zusammen.

Die zweite Bestrafung bricht ihn und mich. Ich will mir die Augen zuhalten, nicht mehr weiterlesen und muss es doch. Jeder weitere Satz ist wie ein Peitschenhieb.

Und dann wird ein Sieg im Kampf zur Niederlage. Dieser Schrei besiegelt das Ende. Alle wussten das. Keiner sprach es aus. 

Als Leser*in glaubt man recht bald in der Geschichte zu wissen was geschehen ist und warum und weiß doch nichts. Gar nichts, von dem was es bedeutet hier zu leben. In diesem Ghetto, in diesem Slum. Fast brutal ist die Spannung die Appanah aufbaut, so brutal wie es hier zugeht. Nicht mehr aus der Hand legen will man die Geschichte, keine Unterbrechung zulassen, sie einsaugen, zu ihrem Ende hin drängte es mich. So sehr.

Und dann vermisste ich ihn aber auch schon beim Lesen der letzten Kapitel. Mo, der einem mit der Frage nach einem Karton das Herz brechen kann. Meines hat nach dieser Geschichte mehr als eine Schramme und ich liebe sie dafür. Dafür und für ihre Sprache, die ein echter Hochgenuß ist. Auch stilistisch zählt sie zum Bemerkenswertesten was ich in diesem Jahr gelesen habe. Ich hoffe sehr, sie darf auf recht vielen Lesetischen und in vielen Buchhandlungen nach Euch rufen. Nehmt sie in die Hand, lest hinein. Ihr werdet sie nicht mehr loslassen, so wie mich diese Geschichte seither nicht mehr loslässt. An sie musste ich auch denken, als ich in meinen Ferien am Ufer eines Bergsees stand und seine karibisch anmutende Farbe bestaunte.

Malachitgrün war sie, die Farbe des Bergsees, an dessen Ufer ich in den Ferien stand und dieses Licht, es musste aus der Tiefe kommen. Es irrlichterte im Wasser als wisse es nicht wohin. Was es wohl sieht, dort unten auf dem Grund? Mit begrenzten Mitteln versuchte ich sein überirdisches Leuchten einzufangen. Aber es ließ sich nicht bannen, es tanzte und narrte mich. Soll es ruhig, auf meiner inneren Festplatte habe ich es längst gespeichert. Dort wird es bleiben und ich werde mich erinnern, an das Geisterhafte, an sein fluoreszierendes, grünes Schimmern und es wird mich für immer verbinden mit diesem Roman …

Mein Dank geht an den Lenos Verlag für dieses Besprechungsexemplar.

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