Das Gewicht der Worte (Pascal Mercier)

*Rezensionsexemplar* 

Samstag, 15.02.2020

“Schreiben macht keine neuen Menschen. Aber es schafft Klarheit und Verstehen. Oder doch den Anschein. Und wenn man mit seinen Worten Glück hat, ist es wie ein Aufwachen zu sich selbst, und es entsteht eine neue Zeit: Die Gegenwart der Poesie.

Pedro Vasco de Almeida Prado, Die Zeit der Poesie, Lissabon 1903

Was habe ich mich gefreut, endlich wieder eine neue Geschichte von ihm in den Händen zu halten. So lange ist es schon her, dass ich mit ihm in den Nachtzug nach Lissabon gestiegen bin. So lange schon ist es her, dass ich mit ihm vor diesem Stoppschild gestanden bin, das das Leben seinem Helden damals in den Weg gestellt hatte. Ihn hat aufbrechen lassen, von jetzt auf gleich, Hals über Kopf in ein neues, ein anderes Leben. Er hat seiner Figur an dieser Weggabelung eine Entscheidung abverlangt, in welche Richtung es weitergehen soll, ihn alles in Frage stellen lassen. Als Wegweiser gab er ihm damals einen alten Roman mit, auf den Spuren seines Autors ließ er ihn wandern. Auch diesmal schont er seinen Protagonisten nicht, wieder sind es Worte die ihn führen, gewichtige und andere …

Was habe ich mit der Zeit meines Lebens gemacht? Hungrig sein nach Gegenwart, ohne zu wissen worin sie besteht. Im Angesicht einer todbringenden Krankheit häufen sich die Fragen. Wen hatte man wirklich gekannt? An wen hatte man sich bloß gewöhnt? Wenn die Zukunft schwindet und die Gegenwart sich zentriert, ist es dann Zeit für Ehrlichkeit? Für eine die gnadenlos ist? Wie will man aus dem Leben treten, was noch regeln, wen wie zurücklassen?

Wenn einer die richtigen Worte findet, die wesentlichen Fragen dazu aufwerfen kann, dann Pascal Mercier. Schon “im Nachtzug” hat er das gekonnt getan und ich nehme es vorweg. Mercier kann es noch, mich einfangen, mich nachdenklich machen, seine Worte hatten und haben Gewicht – für mich.

Das Gewicht der Worte von Pascal Mercier

Ein Haus in Hampstead, geerbt von einem Onkel, ein Umzug von Triest hierher. Lange war Onkel Warren für ihn der Mann im Orient gewesen. Stets war er unterwegs in exotischen Städten, im Aufbruch zu fernen Zielen. In so vielen Sprachen zu Hause.

Mit einem großen Koffer war Simon Leyland jetzt hier angekommen. Das Haus des Onkels in England fühlte sich richtig an, richtig um über den nächsten Abschnitt in seinem Leben nachzudenken. Vierundzwanzig Jahre hatte er in Italien gelebt, aber nie einen italienischen Pass beantragt. Vierzig Jahre war es jetzt her, dass er hier in London in einem Hotel in einer Mansarde gewohnt und als Nachtportier gearbeitet hatte. Alle Sprachen, die rund um das Mittelmeer gesprochen wurden wollte er damals lernen, diesen Wunsch hatte der Onkel in ihm geweckt, er und die stumme Landkarte, die in dessen Arbeitszimmer hing, noch immer …

Die Bilder seines Gehirns zwischen ihnen auf dem Tisch, die Bläschen in seinem Mundwinkel, die er nicht spüren konnte. Nachdem Anfall, der anders war, als alle vorhergehenden Migräne-Attacken, hatten sie das Wort Tumor nicht in den Mund genommen. Die Worte waren ihm mit einem Schlag abhanden gekommen, nur in seinen Gedanken waren sie noch da, war er noch da. Das Gesicht des vertrauten Arztes sprach Bände. How much time? War die einzige Frage die jetzt noch Bedeutung hatte, und niemand würde in sein Gehirn schneiden, das stand für ihn fest …

Worte können wie ein Messer sein, schneidend und verletzend. Aber auch wie Balsam, wärmend und tröstend. Worte und Schreiben als Therapie, um sich zu ordnen, so beginnt der Protagonist im Merciers Geschichte Briefe an seine verstorbene Frau zu schreiben. Wir schauen ihm dabei über die Schulter und lesen mit. Erfahren von der Angst die er hat, von dem dringenden Wunsch, das hinter der Zeit, die er wartend verbringt, doch noch eine Zeit ohne Angst liegen möge. So etwa, wie man sie erlebt, wenn man auf eine Operation wartet, die Hoffnung haben kann, ihr Nahrung geben darf, dass danach alles besser sein wird. Was aber ist mit dieser Zeit, die man wie gelähmt verbringt? Sie ist wie vergiftet und in der Rückschau, in der Erinnerung ist sie wie ein schwarzes Loch. Sie fehlt und man bekommt sie nie wieder zurück …

Einmal mehr merkt man bei diesem Text, hier ist ein Berufs-Philosoph am Werk. Wer, wenn nicht er, kann solche Gedankenbilder entwerfen, in denen man sich verlieren kann? Mit Sätzen die sanft sind, schneiden mich diese Gedanken scharf wie ein Skalpell. 

Vergleicht man Merciers aktuellen Roman mit dem Nachtzug, fühlt er sich um einiges schwermütiger an. Der Optimismus des Nachtzuges, der Drang zu Aufbruch und Neuanfang braucht hier Zeit. Auch dann, wenn es hier um Anfänge geht, wie es sie ihm Leben tausendfach gibt, um kleine Gesten, die einem einen Partner zum Vertrauten werden lassen. Die man liebt, wenn man sie wahrnimmt, die man vermisst, wenn sie fehlen …

Pascal Mercier, mit bürgerlichem Namen Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, studierte Philosophie, Anglistik und Indologie, lehrte u.a. an der Freien Universität Berlin, wo er auch heute lebt. Unter seinem Pseudonym Pascal Mercier veröffentlichte er, inklusive diesem hier, fünf Romane. Sein wohl bekanntester ist der 2004 erschienene Nachtzug nach Lissabon.

Worte sind die Kupplung in dieser Geschichte. Sie halten alles zusammen. Gedanken und ihre Niederschrift führen uns auf eine Reise zu uns selbst. So wie Simon im Roman, wir folgen ihm. Folgen ihm von London nach Triest, nachdem er seine Frau Livia kennengelernt hat. Übernehmen mit ihm ein Leben in der Vielsprachenstadt. Freuen uns mit ihm, dass er in Livia eine Seelenverwandte gefunden hat, eine die seine Leidenschaft für das Übersetzen, das Lesen, das Schreiben teilt.

So ist dieser Roman auch eine Hommage an den Beruf des Übersetzers, er zeigt auf, welche Nähe erforderlich ist um sowohl den Ton des Autors transportieren zu können, als auch einen eigenen zu finden. Er handelt von dem Mut, der erforderlich ist einen eigenen Text zu schreiben, Erfahrungen in Fiktion zu verwandeln, zu veröffentlichen, sich der Meinung anderer auszusetzen.  

“Übersetzen, das ist eine unerhörte Invasion der fremden Innenwelt und sie ist gefährlich. Denn weil der Übersetzer den Autor besser kennt als jeder andere, kann er ihn auch so tief verletzen wie niemand sonst.”

Textzitat Pascal Mercier Das Gewicht der Worte

Die Poesie von Wörtern und Tönen vermag die Zeit zu verlangsamen, weil sie Gegenwart schafft und uns so befreit von der Diktatur der Uhrzeiger. Was für ein schöner Gedanke und lesen wir nicht auch genau deshalb?

Wer sich den vielen Denkfäden die Mercier hier zu einem feinen Netz verwebt, nicht öffnen kann, der wird sagen, warum wiederholt er alles mehrfach? Warum erzählt er nicht einfach mal vorwärts, sondern ständig seitwärts und rückwärts, das nicht nur einmal, wenn es um seine Hauptfigur geht? 

Hier hält man einen Text in Händen, in den man sich ganz hineingeben kann, aber die Muße für ihn auch finden muss. Wer den Absprung, den richtigen Zeitpunkt für diesen Roman verpasst, der wird seinen ruhigen Erzählfluß als Längen empfinden. Ich mochte die Ruhe und Wehmut, die die Geschichte ausstrahlt und wie sie mich, in mich hat hinein horchen lassen. 

Merciers Liebe zur Sprache ist darüber hinaus unverkennbar. Er schöpft aus einem großen Wortschatz, meinen Geist konnte ich in seinen schönen Sätzen baden. Angestrengt hat er mich aber auch, eine für mich zu hohe Dichte an philosophischen Gedankengängen hat es in Summe. Vielleicht hätte das Kürzen um einige Seiten dem Roman auch gut getan, oder aber meine verklärt hohen Erwartungen nach dem Nachtzug standen mir ein wenig im Weg. An ihm hat es in keinem Fall gelegen, ganz im Gegenteil:

Markus Hoffman, Schauspieler und gefragter Vorleser im Hörbuch, umgarnt mich hier mit seiner Stimme 1.340 Minuten lang. Wo hatte sich dieser Mann so lange vor mir versteckt? Beim Klang seiner Stimme merkte ich sofort auf, dass müssen vor mir auch schon einige andere mehr getan haben, denn zwei goldene Schallplatten hat er schon gewonnen. Für Hörfunkproduktionen ist er eine feste Größe und ich tue mich jetzt mal um, was er noch so eingelesen hat.

Leicht gedehnt ist sein Vortrag, sanft und nachdenklich, und dieser Hauch, diese Wehmut, die er den Sätzen mitzugeben vermag. Ich bin ihr verfallen vom ersten Ton an. Das Gewicht der Worte liegt nicht schwer in seinem Mund, es geht ihm leicht über die Lippen. Für mich ist er eine Idealbesetzung für diesen Roman von Mercier und ich kann nur Danke sagen für einen großartigen Vortrag! Neuer Lieblingssprecher voraus!

“Es gibt keine größere Fremdheit als die, der zersetzten Intimität.”

Textzitat Pascal Mercier Das Gewicht der Worte
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