Das Geschenk des Lebens (Sarah Leipciger)

Wenn ich eines beim Erste Hilfe Training immer gehasst habe, dann war es die Mund-zu-Mund-Beatmung an dieser Wiederbelebungspuppe. Sie roch nach Gummi und schreckte mich ab. Das sie ein Gesicht hat, war für mich nicht von Bedeutung, ehrlich gesagt war ich in Gedanken, immer bei der Technik und wollte alles richtig machen. Das das Gesicht dieser Puppe etwa einmal einem lebenden Menschen, einer Frau aus Fleisch und Blut gehört hat, ist für mich ein ungeheuerlicher Gedanke. Aber genauso ist es. Viele von uns haben wahrscheinlich an der Rescue Anne oder auch QCPR Anne geübt. Geübt, wie man einem Menschen, der am Rande des Todes steht Atem spendet, wie man ihn so vielleicht wieder ins Leben zurück holen kann.

1960 entwickelten der Anästhesist Peter Safar und der norwegische Spielzeugmacher Asmund Laerdal, der erstmals mit Weichplastik arbeitete, und dessen Sohn mit zwei Jahren beinahe ertrunken wäre, diese Puppe. Laerdal gab ihr das Gesicht einer Unbekannten Toten, deren Leichnam etwa um 1900 aus der Seine geborgen worden war.

Die Unbekannte aus der Seine (Bildquelle wikipedia.org)

Die Legende besagt, das ein Mitarbeiter der Pariser Leichenschauhalle ihr Gesicht so schön fand, das er sich in sie verliebte und von ihm einen Gipsabdruck und später eine Totenmaske anfertigen ließ. Rätselhaft friedvoll lächelnd und ganz und gar unentstellt sei dieses Gesicht im Tod gewesen. Albert Camus verglich sie gar mit der Mona Lisa. Dieses Lächeln ließ ihre Betrachter spekulieren, zu Hunderten wurde ihre Maske reproduziert, hing in Künstlersalons und Wohnzimmern in ganz Europa …

“Da war der Geruch von Rost und kaltem Stahl, da war der Geruch des Flusses, und da, in diesem Moment, war die Möglichkeit greifbar, dass die Dinge einen anderen Lauf nehmen könnten. Wollte die Welt mir ein Zeichen schicken, dass sich lieber bleiben sollte …”

Textzitat Sarah Leipciger Das Geschenk des Lebens

Das Geschenk des Lebens von Sarah Leipciger

Die Stiefel zog sie aus. Sonst nichts. Mit all ihren Kleider wagte sie den Sprung. Den Sprung in den Fluss, der sich unter ihr und der Seinebrücke rauschend bauschte. Die Angst nach dem Sturz löste sich rasch, als das Wasser sie mit sich fort riss. Alles wegspülte was Last und bedrückend war. Leicht. So fühlte sie sich. Jetzt. Endlich.

Anouk hatte heute Geburtstag. Anouk wurde heute Vierzig. Das sie diesen Tag erleben würde war nicht zu erwarten gewesen. Anouk hat Mukoviszidose. Ihre Lunge ist im Eimer. Ohne ihr Sauerstoffgerät macht sie keinen Schritt mehr und jetzt steht sie aller Risiken zum Trotz doch auf der Transplantationsliste. Eine Chirurgin hatte sie eben nüchtern über die Risiken und ihre Überlebenschancen aufgeklärt. Sie hatte sie aufgebracht mit ihrer Sachlichkeit, als hätte Anouk sich nicht schon mehr als einmal damit auseinander gesetzt was es bedeutete, wenn das Geschenk des Lebens zurück gefordert wird … 

Sarah Leipciger, ist Kanadierin und lebt in Lodon mit ihrer Familie. Sie unterrichtet Inhaftierte im Kreativen Schreiben und veröffentlicht Kurzprosa. In Das Geschenk des Lebens erweckt sie eine junge unbekannte Frau zum Leben und lässt sie als Ich-Erzählerin über einen Auszug ihres Lebens und über ihren Tod erzählen. Was schon außergewöhnlich ist, blickt doch am Ende ihrer Geschichte eine Tote auf sich selbst und beschreibt was weiter mit ihrem Leichnam geschieht.

Aufgewachsen bei einer hartherzigen Tante. Bei einer Reise nach Paris ist sie allein auf sich gestellt. Es wartet eine Anstellung als Mädchen für alles. Sie erfährt eine unglückliche, eine verbotene Liebe.

Der Tod eines Kindes. Ein trauernder Vater. Eine Krankheit wie eine biblische Strafe. Eltern in Nöten, der Beziehung zueinander daran zerbricht.

Ein Flussmädchen, das keine Angst vor Spinnen hat. Ein orakelnder Clochard. Ein Unfall in einer eiskalten, schneeblinden Nacht. Ein Hirsch, sein Geweih verfangen im Kühlergrill. Noch lebt er.

Mit der Einleitung in ihre Geschichte hatte mich diese Autorin sofort. Sie hat so etwas herrlich düster melancholisches. Sprachlich geht sie ihren Text klar und poetisch zugleich, ja lyrisch an. Was wie ein Gegensatz klingt, bei ihr aber ganz wunderbar funktioniert.

Mit ihren nächsten Kapiteln verliert sie mich dann, denn sie beginnt ihre Aufmerksam zu teilen, rückt ab von der Figur, von der ich mehr erfahren will, teilt ihr Aufmerksamkeit auf, auf drei Handlungsstränge. Wechselt in ihrer Geschichte zwischen mehreren Ebenen und in der Zeit hin und her. Ich starte in Paris 1899 um mich dann einige Seiten weiter in der Nähe von Stavanger wiederzufinden und nur wenige Sätze später bin am Ottawa River in Kanada im Jahr 1987.

Leipciger stellt ein schwer krankes Kind und die Zerreißprobe, die der Umgang mit dieser Krankheit für die Eltern bedeutet mehr in den Mittelpunkt ihres Romans als die Geschichte der jungen Frau, deren Gesichtszüge die Zeit überdauert haben und die mich so fasziniert.

Begeistert hat mich der wache, empathische Blick dieser Autorin für alles was in der Natur um sie herum geschieht und für das, was in ihren Figuren vorgeht. Das packt sie in unglaublich schön formulierte Sätze, die schimmern wie ein tanzender Sonnenstrahl auf dem Wasser. Es gibt reichlich von ihnen, platziert sind sie wie kleine Gedichte, und stets werden sie in der richtigen Dosis eingesetzt, damit diese Erzählung durch sie nicht beschwert wird.

“Das Schweigen des Hauses rüttelte an mir. Wo war meine Familie? Das Schweigen saß mir auf der Schulter und blies mir ins Ohr. Es stellte mir die Nackenhaare auf. Es tickte.

Textzitat Sarah Leipciger Das Geschenk des Lebens

Sprachlich war ich jederzeit bei ihr, bei Sarah Leipciger und bei ihrer Übersetzerin Andrea O’Brien, die diese Aufgabe meisterlich gelöst hat. Mittels schöner, treffender Bilder wird erzählt und mich berührt das so, das ich an der Geschichte dran bleiben will. Ich genieße nachgestellte Wörter und Kurzsätze, die als Stilmittel eingesetzt wie ein Verstärker wirken. Stoße auf Sätze, die ich nur zu gerne zweimal lese. Inhaltlich dauert es länger, bis Leipciger mich wieder einfangen kann, was vielleicht auch daran liegt, dass ich mehr erwartet hatte. Mehr Hintergrund um die medizinischen Praktiken zur Wiederbelebung und zur Rescue Anne, der Puppe die hierfür seit vielen Jahren genutzt wird, und der die Unbekannte Tote aus der Seine ihr Gesicht gegeben hat.

Erwartet hatte ich mir eine etwas intensiver recherchiert historische Geschichte, die mir mehr über diese Totenmaske erzählt und darüber warum man sowas früher überhaupt gemacht hat, Totenmasken meine ich. Für mein Gefühl konzentriert sich Leipciger zu sehr auf das Drama und Schicksal ihrer Protagonistin Anouk. Der dritte Handlungsstrang um einen Vater, der in Norwegen seinen kleinen Sohn verliert, wirkte auf mich seltsam deplatziert. Nur wenn man sich mit dem geschichtlichen Zusammenhang beschäftigt, wird klar warum dieses Intermezzi mit dazu gehört. 

Erinnert hat mich der Aufbau von Leipcigers Plot sehr an die Handschrift von Maja Lunde, die ihre Geschichten auch oft teilt und ein zentrales verbindendes Element wählt, bei ihr ist es dann das Klima, die Umwelt. Leipciger nutzt als dramaturgischen roten Faden das Wasser, den Fluss, das Ertrinken, das Luft holen, das zu Atem kommen. Das Gefühl ersticken zu müssen. “Das-Unterwasser-Sein” setzt sie dabei sowohl körperlich, als auch als Metapher ein. Mitfühlend und sehr eindrücklich beschreibt sie diese Grenzerfahrungen. Diesen schmalen Grad zwischen Leben und Tod, nutzt Leipciger und verbindet ihn mit dem Gesicht jener unbekannten Toten aus der Seine. Einem Gesicht, das einer Puppe zugeführt wurde, die heute in aller Welt dafür sorgt, das Leben gerettet werden können und sollte diese Frau ihren Tod wirklich selbst gewählt haben, aus Kummer und Verzweiflung, die Funktion in der und mit der ihr Gesicht weiterlebt gibt ihrem Tod einen Sinn, weit über das Leben hinaus.

Ein schönes, ein schmerzliches, ein nachdenkliches Bild zeichnet Sarah Leipciger dann gegen Ende ihres Roman und holt mich wieder ab. Da ist sie, die Geschichte dieser Unbekannten, die allen Schmerz dieser Welt im Sterben einfach weg gelächelt hat … 

“Von einem Leben ins nächste stürzt man tief. Es ist schwierig, Worte zu finden. Ich möchte es dir mitteilen, dir klarmachen, wie viel. Wie schwer. Wie. Die Erde, so habe ich gelernt, kann sich plötzlich und ungestraft auftun und einen Menschen mit Haut und Haar verschlingen. Das Herz sinkt zuerst, danach folgt der Rest, der gesamt Oberkörper, die Arme, die Finger.”

Textzitat Sarah Leipciger Das Geschenk des Lebens

Das Geschenk des Lebens ist der erste Roman der kanadischen Autorin Sarah Leipciger der auf Deutsch erhältlich ist, das noch druckfrisch seit 21.08.2020. Mein Dank geht an Politicki und Partner und den Arche Verlag für dieses Rezensionsexemplar.

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