Das Floss der Medusa (Franzobel)

Samstag, 30.09.2017/ Montag, 14.01.2019 (Taschenbuch-Erscheinungstermin)

Wo kein Brot da kein Gesetz” (Text-Zitat)

Einer spontanen Eingebung war Viktor gefolgt. Der Langeweile und der Behütetheit seines Elternhauses hatte er entkommen wollen. Ein Abenteuer erleben! Die Heuer als Kombüsenjunge auf einem Großsegler konnte ja wohl so schwer nicht sein! Als er jetzt aber in die wütend blitzenden Augen des Kochs sah, der sein Handgelenk eisern umklammert hielt und laut schimpfend seine Handfläche auf die glühend heiße Herdplatte drückte, änderte er seine Meinung. Wo war er hier nur hingeraten? Was würde er noch erdulden müssen? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Seine Schreie vermischten sich mit dem Zischen von verbrannter Haut und ihm wurde schwarz vor Augen …

Das schlimmste Schiffsunglück des 19. Jahrhunderts. Aufgebrochen war die Fregatte Medusa zusammen mit drei weiteren Schiffen in La Rochelle/Frankreich. Sie sollte der neuen Kolonie im Senegal frisches Blut, frische Soldaten bringen. Am 3. Juli 1816 aber lief die Medusa, vom Kurs abgekommen, auf der berüchtigten Arguin Sandbank, 100 Kilometer vor der Küste Westafrikas, auf Grund und drohte auseinander zu brechen. Die mitgeführten Rettungsboote fassten von den 400 Menschen an Bord nur 250. 147 wurden auf ein provisorisch gezimmertes Floß verfrachtet und sahen sich alsbald sich selbst überlassen. Einige wenige blieben an Bord der gestrandeten Medusa zurück. Auf dem Floß der Medusa überlebten am Ende nur 15 Menschen. Zwei von ihnen, darunter der zweite Schiffsarzt Savigny, schrieben sich danach das Erlebte von der Seele. Die französische Regierung war an diesen Schilderungen aber nicht nur nicht interessiert, sie verbot sogar damals die Veröffentlichung und drängte den Arzt gar zu einem Widerruf.

Dem jungen französischen Maler Théodore Géricault aber war der Bericht schon in die Hände gefallen. Er verstand es dem “Vorfall” eine Gestalt, ein Gesicht zu geben, welche bis heute die Welt kennt. Er verewigte die Tragödie in seinem berühmten Gemälde, mit einer Wucht und Größe (7,16 x 4,91m), das den sprachlosen Besuchern des Louvre in Paris damals wie heute noch eine Gänsehaut macht. Es ist also so konsequent wie unausweichlich, dass der Leser von Franzobels Roman heute ebenso auf einen Ausschnitt von Géricaults Gemälde schaut, wenn er das Buch in der Hand hält:

(Quelle eingefügtes Gemälde: Wikipedia)

Bereits am Morgen des 3. Tages nach der Havarie der Medusa, wachten auf ihrem eilig gezimmerten Floß nur noch etwa die Hälfte der Menschen auf, die geglaubt hatten hier eine Zuflucht gefunden zu haben. Das Floß, nach der blutigen Meuterei des Vortages jetzt ohne Segel, Ruder und Kompaß, umkreisten zahlreiche Haie, offenbar in Erwartung noch fetterer Beute. So schutzlos ausgeliefert an Wetter, Gezeiten, HUNGER und DURST, brachen sich die niederen Instinkte Bahn. Recht und Ordnung, Moral und Anstand, Rücksicht und Empathie schienen zu einem anderen, einem längst gelebten Leben zu gehören. Hier erfuhr jeder seine eigene Wahrheit, eine Wahrheit jenseits aller Vorstellung …

Ignoranz, Arroganz, ein Ehrgeiz der keine Grenzen kannte und maßlose Selbstüberschätzung hatten zig Menschen in den Abgrund gerissen. Doch der glühende Hass der Überlebenden auf die Verantwortlichen war jeden Tag ein wenig mehr zurückgewichen, setzten sich doch mehr und mehr die vielen Toten in ihren “Brot-Träumen” fest …

Das Floss der Medusa (Franzobel)

Franzobel, österreichischer Erfolgsautor, hat sich für mich mit diesem Roman völlig verdient auf die Short-List des deutschen Buch-Preises 2017 geschrieben. Gründlich recherchierend, hat er nicht nur die Grundbegriffe historischer Seefahrt gelernt, er reiste in den Senegal, erreichte tatsächlich auch persönlich das Wrack der Medusa. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es sich angefühlt hat dort zu stehen …

Ein absolutes Alleinstellungsmerkmal erreicht Franzobel für mich mit der von ihm gewählten Erzählweise. Lässig, teils flappsig, aber nie despektierlich, setzt er treffsicher Akzente. Ein etwaiges Auflachen bleibt mir als Leser sofort wieder im Hals stecken, vergegenwärtige ich mir, dass das Geschilderte keine Erfindung, sondern historisch von Überlebenden verbrieft  ist. Stilistisch sehr besonders, setzt Franzobel einen modernen Erzähler ein, der polarisiert. Es wird und wurde viel diskutiert, ob dieser Erzähler mit eben dieser Modernität seiner Sprache notwendig gewesen sei, oder ob er gar im historischen Kontext störe.

Nachdem bei mir etwas Zeit zu meinem Leseerlebnis verstrichen ist, bin ich mir mittlerweile sicher, diese Ereignisse konnte man nur von “außen betrachtend”, mit dem nötigen Abstand erzählen. Mit einem Abstand, der so auch durch die Erzählform, den Erzählton hergestellt wird. Von “innen berichtend” kann man die Geschehnisse auch heute noch nicht gut aushalten. Kanibalismus läßt sich nicht schön reden. Darf man dann aber so unerhört formulieren, so überzeichnen, wenn man über diese Schrecken schreibt? Das muss am Ende jeder Leser für sich selbst entscheiden. Bei mir hat Franzobel damit eine Verstärkung der geschilderten Skrupellosigkeit, eine Verdeutlichung der Charaktereigenschaften der Figuren erreicht, die tief geht. Nach Tagen irrlichtern die Bilder die er erschaffen hat noch immer in meinem Kopf umher …

Er malt mit Worten eine Kulisse, ebenso satt und von epischer Wucht, wie das Gemälde von Géricault. Er breitet einen Schiffsalltag vor uns aus, eine Zweiklassen-Gesellschaft, der/die erschütternder nicht sein könnte. Erzählt die Geschehnisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln, macht so deutlich, es gibt immer mehr als nur eine Wahrheit. Den Schwerpunkt im Handlungsstrang legt er dabei auf die 13 Tage der Floss-Odyssee. Die Leidenswege, die andere Überlebende dieses Schiffsunglücks erfahren und die unterschiedlicher nicht sein könnten, erleben wir nur am Rande. Die Schrecken, die teils in ihnen hausen, erahnen wir aber sehr wohl.

Gnadenlos hält dabei Franzobel seine Stablampe auf den fratzenhaften Wahnsinn, die Abgründe menschlichen Handelns. Er gönnt uns auch dann als Leser keine Verschnaufpause, wenn wir es nicht mehr gut aushalten können. Auspeitschungen, beinahe Vergewaltigungen, Verwesungsgestank, Leichenfresser, Pissetrinker und Säuberungsaktionen mutet er uns dabei zu. Wie seinen Figuren ergeht es uns, wir müssen da durch und wir wollen es auch!

Eine unsichtbare Kraft, die Hoffnung als Treibstoff allen Lebens, peitscht die Gestrandeten voran, erhält ihren Lebenswillen, läßt sie Ekel, Grausamkeiten, Demütigungen und körperliche Qualen ertragen.

Als Leser wissen wir schon zu Beginn, was hier geschehen wird und trotzdem oder gerade deshalb, kleben wir wie die Fliegen gebannt an jeder Zeile. Die Frage nach dem WIE es dazu kommen konnte, wo doch diese Tragödie mit Weitblick und Umsicht zu verhindern gewesen wäre, verstärkt zwar die Dramatik, spielt aber schon bald keine Rolle mehr. Andere Fragestellungen drängen sich auf:

Wie weit gehen wir um unser eigenes Überleben zu sichern? Heute wie damals? Der Mensch als Tier? Ist Wahrheit wirklich nur das was nützt?

Zum ersten Mal ist es mir schwer gefallen eine Rezension zu schreiben, X-Mal habe ich sie korrigiert. Ich habe das Gefühl, weder diesem Roman noch den Ereignissen mit meinen Worten gerecht werden zu können. Was ich aber tun kann ist, denen die noch unentschlossen sind, Mut zu machen diese unglaubliche Geschichte selbst zu lesen und zu erleben, was sie mit uns macht …

Verfasst von:

4 Kommentare

  1. Petra
    22. November 2020

    Lieben Dank Julia, für das schöne Kompliment. Es ist mir ein Ansporn. Deine Sicht zu Franzobel teile ich ohne Einschränkung, ich habe diesen Kniff mit dem Erzähler von ihm auch als frech und modern empfunden und sehr gemocht. LG von Petra

  2. Julia
    22. November 2020

    Liebe Petra,
    was mich an diesem Buch zum Schmunzeln bringt, sind die fast unbemerkten gedanklichen Sprünge von Franzobel und teils auch in andere zeitliche Ebenen. Ausserdem scheint er sich manchmal mit dem Leser fast zu unterhalten. Ich finde, das ist ein interessanter neuer Stil, den ich so noch nicht gelesen habe. Es sind zwar fast unbemerkte Sätze und nur kleine ” Schlenker”, aber diese Variante fand ich irgendwie mutig. Das noch zu diesem Buch. Das hast du wahrscheinlich auch mit “Erzählton” gemeint. Ich bin sehr gerne auf deiner Buch-Seite und hoffe du betreibst sie noch lange weiter.

  3. Petra
    18. November 2020

    Liebe Julia, vielen Dank für Deinen ausführlichen Leseeindruck. Ich hoffe Du schaffst es durchzuhalten. Ich finde es lohnt sich sehr. Mich hat besonders beeindruckt wie “frech” und mit welchem Ton Franzobel einen Erzähler einsetzt um diesen historischen Stoff zu transportieren. Wünsche Dir weiterhin beste Unterhaltung. LG von Petra

  4. Julia
    16. November 2020

    Liebe Petra, dieses Buch lese ich gerade und mir geht es wie dir. Hierüber begeistert zu erzählen wird mir nicht unbedingt gelingen. Trotzdem klebe auch ich an dieser Geschichte wie eine erschlagene Fliege und warte darauf,wie es weiter geht. Wird mich das Buch auffressen wie eine Möwe und lässt mich
    erschlagen zurück, von der Macht der Geschichte gebannt? Das kannst wohl eher du beantworten. Von der Derbheit der Seemanschaft bin ich manchmal derart angeekelt, dass ich mich frage, ob ich es wohl schaffe es zu Ende zu lesen. Menschlichkeit? Ein Fremdwort auf diesem Schiff, bei dem schnell klar wird, die jeweils Oberen behandeln die jeweils Untergebenen miserabel. Ob ich das durchhalte? Andererseits gibt es viele Schattenseiten, die Franzobel ungeschönt beleuchtet und ich lese nun mal keine Geschichten mit Happy Ends. Trotzdem wirklich keine leichte Kost.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert